Energiepreis-Protest > Grundsatzfragen
"Der BGH läuft Amok" (Urteil vom 28.10.2015 vs. § 315)
uwes:
--- Zitat von: h.terbeck am 17. März 2016, 09:05:54 ---"Wer den Preisprotest also fortführt, muss jetzt eher damit rechnen, durch seinen Versorger verklagt zu werden, da die Versorger darauf hoffen, dass viele Gerichte kritiklos dem BGH folgen werden."
--- Ende Zitat ---
Warten wir erst einmal den 6. April ab.
Lothar Gutsche:
Die Leitsätze e) bis h) aus dem BGH-Urteil vom 28.10.2015 unter Aktenzeichen VIII ZR 158/11 befassen sich mit einer ergänzenden Vertragsauslegung und führen im Ergebnis zu einer Abschaffung der Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB. Die verbraucherschützenden Normen der EU-Richtlinien zur Strom- und Gasversorgung kommen in dem Urteil des BGH vom 28.10.2015 bei der Preiskontrolle gar nicht zur Anwendung.
In den juris-Randnummern 62 – 64 seines Urteil vom 28.10.2015 unter Aktenzeichen VIII ZR 158/11 weist der VIII. Zivilsenat des BGH jedoch darauf hin, dass die EU-Richtlinien für Strom und Erdgas auch unmittelbar anwendbar sein können:
„Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes kann sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (siehe nur EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 Rn. 9 ff. - van Duyn; Rs. C-148/78, Slg. 1979, 1629 Rn. 18 ff. - Ratti; Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 17 ff. - Becker; Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 Rn. 46 ff. - Marshall; Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 Rn. 28 ff. - Fratelli Costanzo SpA; Rs. C-397/01 bis 403/01, aaO Rn. 103 - Pfeiffer u.a.; jeweils mwN; vgl. BAGE 128, 134, 154; [sogenannte vertikale Direktwirkung]). So kann sich der Einzelne auf unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen einer Richtlinie auch gegenüber Organisationen oder Einrichtungen - unabhängig von ihrer Rechtsform - berufen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten (EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 Rn. 17 ff. - Foster u.a.; Rs. C-253/96 bis C-258/96, Slg. 1997, I-6907 Rn. 46 f. - Kampelmann u.a.; jeweils mwN).“
In vielen Fällen sind die Energieversorgungsunternehmen trotz ihrer Rechtsform als GmbH oder Aktiengesellschaft keine rein privaten Unternehmen, sondern unterstehen als Kommunalunternehmen der jeweiligen Gemeinde staatlicher Aufsicht. So sitzen im Aufsichtsrat neben den obligatorischen Arbeitnehmervertetern oft viele Stadtverordnete, Bürgermeister und Kämmerer. Nach § 53 des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGrG) gelten erhöhte Berichtspflichten bei der Prüfung des Jahresabschlusses, sobald 50% Gebietskörperschaften gehören, siehe im Detail https://www.gesetze-im-internet.de/hgrg/__53.html. Viele Kommunalvorschriften sind im Landesrecht der Bundesländer verankert und sehen eine besondere öffentliche Aufsicht über Unternehmen und Unternehmensanteile in öffentlicher Hand vor. Deshalb handelt es sich bei vielen Stadtwerken um kommunale Dienstleistungsunternehmen, die anders als rein privatwirtschaftliche Unternehmen dem Staat unterstehen.
Vor dem Hintergrund kann jeder Verbraucher eine direkte Anwendung der EU-Richtlinien zum Verbraucherschutz und der EU-Richtlinien zur Strom- und Gasversorgung verlangen, und zwar unter Zitierung der EuGH-Urteile, die der BGH oben selbst nennt. Für eine ergänzende Vertragsauslegung, wie sie der VIII. Zivilsenat des BGH am 28.10.2015 willkürlich vorgenommen hat, bleibt dann überhaupt kein Raum. Die versorgerfreundlichen Leitsätze e) – h), auf die sich der BGH und die unteren Instanzen seit dem 28.10.2015 stützen, sind damit gar nicht anwendbar.
Allerdings muss im Falle eines Prozesses der Verbraucher dieses Argument auch vortragen, sonst wird vom jeweiligen Gericht genau so argumentiert, wie es der BGH unter Aktenzeichen VIII ZR 158/11 vom 28.10.2015 unter juris-Randnummer 65 ausführt:
„Das Berufungsgericht hat jedoch weder festgestellt noch ist sonst ersichtlich, dass es sich bei der Klägerin um eine Organisation oder Einrichtung im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt (siehe oben aa). Übergangenen Tatsachenvortrag zeigt die Revision insoweit nicht auf.“
Im Urteil unter Aktenzeichen VIII ZR 158/11 vom 28.10.2015 ging es um die Stadtwerke Hamm GmbH, die zu 100% der Stadt Hamm gehört, und um die Stadtwerke Geldern GmbH, die sich zu 51 % im Eigentum der Stadt Geldern befindet. Nur wurde diese Tatsache offenbar im Prozess nicht vorgetragen und es hat sich niemand direkt auf die EU-Richtlinien berufen. Die ganze Begründungskette des VIII. Zivilsenats, die zu den fatalen Einschränkungen des § 315 BGB führt, wäre in sich zusammengebrochen. Ungeachtet der verbraucherfeindlichen BGH-Urteile seit dem 28.10.2015 steht es jedem Energieverbraucher frei, bei seinem Gericht über seinen Rechtsanwalt die direkte Anwendung der EU-Richtlinien zu verlangen, falls sein Energieversorger mehrheitlich der öffentlichen Hand gehört.
Mit freundlichen Grüßen
Lothar Gutsche
Email: lothar.gutsche@arcor.de
Martinus11:
Interessanter Gedanke, aber woher weiß man, ob sein EVU mehrheitlich der öffentlichen Hand gehört und wie bestimmt sich das?
Ich vermute mal, EON Energie Deutschland gehört leider nicht mehrheitlich der öffentlichen Hand und die Überlegung beschränkt sich allein auf "Stadtwerke" ect.?
Wenn ich die Beiträge im Unterforum zu Urteilen richtig verstehe, scheint zumindest das Urteil des BGH vom 6.4. erneut nicht sehr verbraucherfreundlich ausgefallen zu sein.
Wurde zwischenzeitlich noch immer keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Verfassungsbeschwerde des Energieverbraucherbundes gefällt?
Martinus11
Lothar Gutsche:
@ Martinus11
Wenn der Energieversorger als Unternehmensform eine private Rechtsform gewählt hat, dann meist in Gestalt einer Kapitalgesellschaft. Weit verbreitet sind Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) und Aktiengesellschaften (AG). Eine Kapitalgesellschaft hat immer ein Grundkapital oder Eigenkapital in Euro. Wenn von dem Eigenkapital mehr als 50% öffentlichen Eigentümern wie z. B. Städten, Gemeinden, Bundesländern oder dem Bund gehören, dann befindet sich das Unternehmen mehrheitlich in öffentlicher Hand.
Große Kapitalgesellschaften geben auf ihren Internetseiten und in ihren jährlichen Geschäftsberichten öffentlich Auskunft über ihre größeren Anteilseigner. Bei GmbHs besteht nach § 40 des GmbH-Gesetzes für das Unternehmen die Pflicht, die Liste der Gesellschafter und deren jeweilige Geschäftsanteile im Handelsregister einzureichen. Das Handelsregister ist für jedermann im zuständigen Amtsgericht zu den dortigen Geschäftszeiten einsehbar. Auf allen Rechnungen und Verträgen Ihres Versorgers finden Sie seine Handelsregisternummer und das zuständige Registergericht. Wer etwas Geld investiert, kann sich den Weg sparen und die gewünschte Information im „Gemeinsamen Registerportal der Länder“ abrufen, siehe https://www.handelsregister.de.
Parallel dazu gibt es auch eine Berichtspflicht der öffentlichen Hand, die gegenüber dem Steuerzahler und den Parlamenten Rechenschaft über die Verwendung der anvertrauten öffentlichen Gelder ablegen muss. So müssen z. B. im Bundesland Bayern Gemeinden jährlich einen Bericht über ihre Beteiligungen an Unternehmen in einer Rechtsform des Privatrechts erstellen, wenn ihnen mindestens fünf Prozent der Anteile eines Unternehmens gehören, siehe für Details https://www.freistaat.bayern/dokumente/leistung/068532559496. Eine verständliche Einführung in die Berichtspflichten liefert die Internetseite http://www.haushaltssteuerung.de und speziell einige Links auf zahlreiche Beteiligungsberichte http://www.haushaltssteuerung.de/beteiligungsberichte.html.
Informationen vor Ort bieten oft eine Abteilung der Kämmerei, eine Stabsstelle beim Bürgermeister oder die Finanzverwaltung.
So können sie durch etwas Recherche herausfinden, ob Ihr EVU mehrheitlich der öffentlichen Hand gehört. Die E.ON Energie Deutschland GmbH mit Sitz in München, eingetragen am Amtsgericht München unter HRB 209327, gehört zu 100% der E.ON SE, Düsseldorf, und gehört deshalb nicht mehrheitlich der öffentlichen Hand.
Zu dem BGH-Leitsatzurteil vom 6.4.2016 unter Aktenzeichen VIII ZR 79/15 finden Sie schöne Besprechungen von Professor Dr. Kurt Markert und Wilhelm Zimmerlin hier im Forum in der Rubrik „Gerichtsurteile zum Energiepreis-Protest“ unter dem Titel „BGH, Urt. v. 6.4.16 Az. VIII ZR 79/15 Erg. Vertragsauslegung= kundenfreundlich“, siehe http://forum.energienetz.de/index.php/topic,20132. In Prozessen mit einem ähnlichen Fall muss jeder einzelne Verbraucher diese Argumente von seinem Rechtsanwalt vortragen lassen und damit Zweifel bei seinem Gericht schüren, ob die Rechtsprechung des VIII. BGH-Zivilsenates mit dem Grundgesetz und mit den europäischen Richtlinien vereinbaren lässt. Die Zweifel müssen so groß werden, dass das Gericht sich zu einer Vorlage an den EuGH genötigt sieht, statt einfach die verbraucherfeindlichen Leitsätze der BGH-Urteile u. a. vom 28.10.2015 und 6.4.2016 zur Grundlage seines eigenen Entscheidung zu machen.
Eine derartige Vorlage hat auch den Vorteil, dass das vom Gericht angerufene Bundesverfassungsgericht sich mit der Sache befassen und entscheiden muss. Bei der immer noch unveröffentlichten Verfassungsbeschwerde des Bundes der Energieverbraucher ist mir nicht bekannt, ob die Verfassungsbeschwerde überhaupt zur Entscheidung angenommen wurde oder ob die Beschwerde wie so viele andere ohne jede Begründung inzwischen einfach zurückgewiesen wird. Selbst im positiven Fall der Annahme ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts frühestens 2017 zu erwarten, wahrscheinlich sogar erst 2018.
Mit freundlichen Grüßen
Lothar Gutsche
Email: lothar.gutsche@arcor.de
Martinus11:
--- Zitat von: Lothar Gutsche am 24. August 2016, 19:48:04 ---
Zu dem BGH-Leitsatzurteil vom 6.4.2016 unter Aktenzeichen VIII ZR 79/15 finden Sie schöne Besprechungen von Professor Dr. Kurt Markert und Wilhelm Zimmerlin hier im Forum in der Rubrik „Gerichtsurteile zum Energiepreis-Protest“ unter dem Titel „BGH, Urt. v. 6.4.16 Az. VIII ZR 79/15 Erg. Vertragsauslegung= kundenfreundlich“, siehe http://forum.energienetz.de/index.php/topic,20132. In Prozessen mit einem ähnlichen Fall muss jeder einzelne Verbraucher diese Argumente von seinem Rechtsanwalt vortragen lassen und damit Zweifel bei seinem Gericht schüren, ob die Rechtsprechung des VIII. BGH-Zivilsenates mit dem Grundgesetz und mit den europäischen Richtlinien vereinbaren lässt. Die Zweifel müssen so groß werden, dass das Gericht sich zu einer Vorlage an den EuGH genötigt sieht, statt einfach die verbraucherfeindlichen Leitsätze der BGH-Urteile u. a. vom 28.10.2015 und 6.4.2016 zur Grundlage seines eigenen Entscheidung zu machen.
Eine derartige Vorlage hat auch den Vorteil, dass das vom Gericht angerufene Bundesverfassungsgericht sich mit der Sache befassen und entscheiden muss. Bei der immer noch unveröffentlichten Verfassungsbeschwerde des Bundes der Energieverbraucher ist mir nicht bekannt, ob die Verfassungsbeschwerde überhaupt zur Entscheidung angenommen wurde oder ob die Beschwerde wie so viele andere ohne jede Begründung inzwischen einfach zurückgewiesen wird. Selbst im positiven Fall der Annahme ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts frühestens 2017 zu erwarten, wahrscheinlich sogar erst 2018.
Mit freundlichen Grüßen
Lothar Gutsche
Email: lothar.gutsche@arcor.de
--- Ende Zitat ---
Danke für das ausführliche Statement.
Dass die Verfassungsbeschwerde gar nicht angenommen wurde, hätte der Bund der Energieverbraucher doch sicherlich schon mitgeteilt. Dass es für eine Zurückweisung Gründe geben könnte, auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen.
Vielleicht kann der Admin hier aufklären zum Stand der Dinge.
2018... meine Güte.
Was das konkrete Schüren ausreichender Zweifel beim Gericht angeht, damit es die Sache an das BVerfG und/oder EUGH weitergibt: Das klingt etwas theoretisch, aber kann vielleicht dazu führen, dass das Gericht die Entscheidung aussetzt. Mag im Einzelfall ja bereits von Nutzen für den beklagten Energiekunden sein. Der Artikel von besagtem Prof. Dr. Markert vom 29.6.2016 macht zwar Mut, aber ich fürchte, bis sich die Hoffnungen auf mehr Gerechtigkeit erfüllen, wird es für viele zu spät sein. Was meinen gerade gerichtsanhängig gewordenen Fall angeht, so kann ich jedenfalls nicht auf 2017 oder 2018 hoffen.
Martinus11
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