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BGH, Urt. v.28.10.15 VIII ZR 158/11 Ergänzende Vertragsauslegung Tarifkunden
RR-E-ft:
Die Leitsatzentscheidung Urteil vom 28.10.15 Az. VIII ZR 158/11 ist veröffentlicht:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=72697&pos=11&anz=470
--- Zitat ---
BGB §§ 133 B, 157 D, 433 Abs. 2; AVBGasV § 4 Abs. 1, 2; GasRL (Richtlinie 2003/55/EG) Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Anhang A; ZPO § 287 Abs. 2
a)
§ 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV ist mit den Transparenzanforderungen der Gas-Richtlinie 2003/55/EG nicht vereinbar (Anschluss an EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2014 - Rechtssachen C- 359/11 und C-400/11, NJW 2015, 849 - Schulz und Egbringhoff).
b)
§ 4 Abs.1 und 2 AVBGasV kann daher ein gesetzliches Recht des Gasversorgungsunternehmens, gegenüber Tarifkunden die Preise einseitig nach billigem Ermessen zu ändern, nicht (mehr) entnommen werden (insoweit Aufgabe der st. Rspr.; siehe nur Senatsurteile vom 13. Juni 2007 -VIII ZR 36/06, BGHZ 172, 315 Rn. 14 ff.; vom 19.November 2008 - VIII ZR 138/07, BGHZ 178, 362 Rn.26; vom 15. Juli 2009 -VIII ZR 56/08, BGHZ 182, 41 Rn.18 ff.).
c)
Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts findet dort seine Grenze, wo die nationale Vorschrift nicht richtlinienkonform ausgelegt werden könnte, ohne dabei die Grenzen der verfassungsrechtlichen Bindung des Richters an das Gesetz zu sprengen. Eine richtlinienkonforme Auslegung setzt daher voraus, dass durch eine solche Auslegung der erkennbare Wille des Gesetz- oder Verordnungsgebers nicht verändert wird, sondern die Auslegung seinem Willen (noch) entspricht (Bestätigung von BGH, Urteile vom 26. November 2008 -VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn. 28; vom 17.
Oktober 2012 - VIII ZR 226/11, BGHZ 195, 135 Rn. 22; Beschluss vom 16. Mai 2013 - II ZB 7/11, NJW
2013, 2674 Rn. 42; Anschluss an BVerfG, GmbHR 2013, 598, 601; NJW 2012, 669, 670 f.; BAGE 82, 211, 225 f.; 106, 252, 261; vgl. auch EuGH, Rs. C-351/12, GRUR 2014, 473 Rn. 45 -OSA; Rs. C-176/12, BB 2014, 2493 Rn. 39 mwN -Association de médiation sociale; Rs. C-12/08, Slg. 2009, I-6653 Rn. 61 -Mono Car Styling).
d)
Ein den Transparenzanforderungen der Gas-Richtlinie 2003/55/EG entsprechendes Preisänderungsrecht kann nicht aus einer richtlinienkonformen Auslegung des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV oder der die Grundversorgung betreffenden Vorschriften des Energiewirtschaftsgesetzes hergeleitet werden, da eine solche Auslegung über den erkennbaren Willen des nationalen Gesetz- und Verordnungsgebers hinausginge.
e)
Die hierdurch im Tarifkundenvertrag eingetretene Regelungslücke ist im Wege einer gebotenen ergänzenden Vertragsauslegung (§§157, 133 BGB) dahingehend zu schließen, dass das Gasversorgungsunternehmen berechtigt ist, Kostensteigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kosten-senkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden
weiterzugeben, und das Gasversorgungsunternehmen verpflichtet ist, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen.
Der nach dieser Maßgabe berechtigterweise erhöhte Preis wird zum vereinbarten
Preis. Für eine zusätzliche Billigkeitskontrolle gemäß § 315 BGB ist deshalb kein Raum.
f)
Die Beurteilung, ob die Preiserhöhungen des Energieversorgungsunternehmens - wie im Rahmen des vorgenannten Preisänderungsrechts erforderlich- dessen (Bezugs-) Kostensteigerungen (hinreichend) abbilden, hat der Tatrichter auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schätzungsmöglichkeit nach § 287 Abs. 2 in Verbindung mit § 287 Abs.
1 Satz 1 ZPO vorzunehmen.
g)
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Weitergabe der Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht tagesgenau erfolgen muss, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen ist. Die Bemessung dieses Zeitraums obliegt der Beurteilung des Tatrichters nach den Umständen des Einzelfalls. In den meisten Fällen wird das Gaswirtschaftsjahr ein geeigneter Prüfungs-
maßstab sein (Fortführung der Senatsurteile vom 13.Juni 2007 - VIII ZR 36/06, aaO Rn. 25, und vom 19. November 2008 - VIII ZR 138/07, aaO Rn. 34 f.).
h)
Von dem aus der ergänzenden Vertragsauslegung folgenden Preisänderungsrecht des Energieversorgungsunternehmens nicht umfasst sind Preiserhöhungen, die
über die bloße Weitergabe von (Bezugs-) Kostensteigerungen hinausgehen und
der Erzielung eines (zusätzlichen) Gewinns dienen.
Etwas anderes gilt -sowohl im Falle der Rückforderung als auch im Falle der Restforderung von Entgelt für Ener-gielieferungen - allerdings unter bestimmten Voraussetzungen dann, wenn bei einem langjährigen Energielieferungsverhältnis der Kunde die Preiserhöhung nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 14.März 2012- VIII ZR 113/11, BGHZ 192, 372 Rn. 21, 25, und VIII ZR 93/11, ZNER 2012, 265 Rn. 29 f.; vom 25.März 2015 - VIII ZR 360/13, juris Rn. 33, und VIII ZR 109/14, juris Rn. 34; vom 15. April 2015 - VIII ZR 59/14, BB 2015, 1548 Rn. 37 mwN). Der danach maßgebliche Preis tritt an die Stelle des Anfangspreises (Bestätigung des
Senatsurteils vom 15.April 2015 - VIII ZR 59/14, aaO).
BGH, Urteil vom 28. Oktober 2015 -VIII ZR 158/11 -
OLG Düsseldorf
LG Düsseldorf
--- Ende Zitat ---
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Fraglich erscheint, dass dann, wenn eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie möglich ist, hierfür jedoch Tatsachenvortrag und- feststellungen in den Tatsacheninstanzen fehlen (Rn. 65), zur weiteren Aufklärung keine Zurückverweisung erfolgt. Das EVU, welches Grundversorger ist, könnte nämlich ähnlich einem kommunalen Versorger als nicht gleichberechtigtes Privatsubjekt, sondern vielmehr als privilegiert im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs erscheinen.
Auch wenn ein Preisänderungsrecht erst im Wege ergänzender Vertragsauslegung eingeräumt wird, so wird es sich auch dabei um ein Recht im Sinne des § 315 Abs. 1 BGB handeln, auf welches § 315 Abs. 3 BGB unmitrelbare Anwendung findet. Schließlich hatte auch der Verordnungsgeber zumindest mit § 17 GasGVV die Anwendung des § 315 BGB klargestellt, woran sich das Gericht zu halten hat. Das im Wege ergänzender Vertragsauslegung durch das Gericht eingeäumte Recht wird nicht weniger der Billigkeitskontrolle gem. § 315 BGB unterliegen können als das nicht gesetzlich eingeräumte Preisänderungsrecht, wenn es wirksam eingeräumt worden wäre.
Insoweit erscheint es nicht überzeugend, wenn nicht von einer Billigkeitskontrolle (der Ausübung des durch ergänzende Vertragsauslegung eingeräumten Rechts), sondern demgegenüber von einer Kontrolle der "Preisbildung im Rahmen ergänzender Vertragsauslegung" gesprochen wird (Rn. 100), wohl um die Sache zu vernebeln.
tangocharly:
Das was der 8. ZS-BGH in seinen Tz. 64,65 ausführt, ist angesichts der Entscheidungen des BVerfG zu dieser Problematik schon als "fauxpas" zu bezeichnen.
Das BVerfG hat am 07.10.2010, Az.: 1 BvR 2160/09, diese Frage über den Weg der Grundrechtsfähigkeit von Versorgungsunternehmen im Privatbesitz beantwortet und dabei in ständiger RSpr. heraus gestellt, dass diese dem Kunden nicht in horizontaler Ebene gegenüber stehen:
--- Zitat ---Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG kann „jedermann“ Verfassungsbeschwerde erheben. Darunter ist derjenige zu verstehen, der Träger von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten, also grundrechtsfähig ist (vgl. BVerfGE 39, 302 <312> m.w.N.). Dies trifft nach Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische juristische Personen zu, soweit Grundrechte betroffen sind, die ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine inländische juristische Person. Allerdings dienen die Grundrechte vorrangig dem Schutz der Freiheitssphäre des einzelnen Menschen als natürlicher Person gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 15, 256 <262>; 21, 362 <369>; 59, 231 <255>; 61, 82 <100 f.>; 65, 1 <43>). Juristische Personen als Grundrechtsinhaber anzusehen und sie in den Schutzbereich bestimmter materieller Grundrechte einzubeziehen, ist mithin nur dann gerechtfertigt, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen ist (vgl. BVerfGE 21, 362 <369>; 61, 82 <101>; 68, 193 <205 f.>; 75, 192 <195 f.>). Die Grundrechtsfähigkeit einer juristischen Person des öffentlichen Rechts ist vor diesem Hintergrund jedenfalls dann zu verneinen, wenn diese öffentliche Aufgaben wahrnimmt (vgl. BVerfGE 21, 362 <369 f.>; 45, 63 <78>; 61, 82 <101>; 68, 193 <206>; 70, 1 <15>). Gleiches gilt für juristische Personen des Privatrechts, deren alleiniger Anteilseigner eine solche juristische Person des öffentlichen Rechts ist (vgl. BVerfGE 45, 63 <79 f.>; 68, 193 <212 f.> ). Auch Energieversorgungsunternehmen, die sich mehrheitlich in (deutscher) öffentlicher Hand befanden, wurden deshalb in der Vergangenheit als nicht grundrechtsfähig angesehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 16. Mai 1989 - 1 BvR 705/88 -, NJW 1990, S. 1783; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Mai 2009 - 1 BvR 1731/05 -, NVwZ 2009, S. 1282 <1282 f.>).
--- Ende Zitat ---
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Das was über die Billigkeitsprüfung gem. § 315 BGB zu lesen ist, stellt auch schon wieder einen "doppelten Rittberger" dar:
(1) Das Recht zur Preisanpassung in der (gesetzlichen) Versorgung erfolgt -ohne Transparenzvorgaben- aus einer ergänzenden Vertragsauslegung (Privatautonomie).
(2) Die Kontrolle der Preisanpassung braucht keinen vorgegebenen und dem Kunden bekannten Rahmen (Zitat: "Der Versorger hat einen gewissen Ermessenspielraum") und folgt auch wieder nur aus dem Gesichtspunkt der Privatautonomie (Ergänzende Vertragsauslegung).
(3) -und das Bonbon am Ende- Eine Kontrolle vereinbarter Preise nach § 315 BGB scheidet aus, weil es eine "3T-Rechtsprechung" gibt.
RR-E-ft:
Die Entscheidung erscheint aus Verbrauchersicht problematisch.
A.
Der Senat hat eine wegen Unvereinbarkeit mit der EU- Richtlinie unwirksame Regelung im Wege ergänzender Vertragsauslegung durch eine Regelung ersetzt, welche sich ebenso wenig mit der EU- Richtlinie vereinbaren lässt, den von der EU- Richtlinie geforderten Verbraucherschutz ebenfalls nicht gewährt.
Es ist Aufgabe auch des Gerichts, die EU- Richtlinie und dem von dieser geforderten Verbraucherschutz Geltung und Wirksamkeit zu verschaffen.
B.
Dieses im Wege ergänzender Vertragsauslegung eingeräumte Preisänderungsrecht soll wohl zudem einer geringeren Kontrolldichte unterliegen als das gesetzliche Preisänderungsrecht nach dem Willen des Gesetzgebers im Falle seiner Wirksamkeit, für welches die Billigkeitskontrolle gem. § 315 BGB vorgesehen war.
So soll es nicht mehr zu einer Billigkeitskontrolle jeder einzelnen Preiserhöhung kommen.
Einzelne Aspekte, die bei einer Billigkeitskontrolle zu prüfen sind, sollen wohl nicht mehr durchgreifen und zukünftig unberücksichtigt bleiben:
BGH, Urt. v. 19.11.08 Az. VIII ZR 138/07, juris Rn 43:
„Das schließt allerdings nicht aus, dass jedenfalls die Weitergabe solcher Kostensteigerungen im Verhältnis
zum Abnehmer als unbillig anzusehen ist, die der Versorger auch unter Berücksichtigung des ihm zuzubilligenden unternehmerischen Entscheidungsspielraums ohne die Möglichkeit einer Preiserhöhung aus betriebswirtschaftlichen Gründen vermieden hätte. Das Recht zur Preiserhöhung nach § 4 AVBGasV kann, wie
die Revisionserwiderung zutreffend geltend macht, angesichts der sich aus § 2 Abs. 1, § 1 Abs. 1 EnWG ergebenden Verpflichtung des Energieversorgungsunternehmens zu einer möglichst sicheren, preisgünstigen, verbraucherfreundlichen, effizienten und umweltverträglichen leitungsgebundenen Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas nicht dazu dienen, dass es zu beliebigen Preisen einkauft, ohne günstigere Beschaffungsalternativen zu prüfen (Markert, RdE 2007, 263, 265; Säcker, ZNER 2007, 114, 115), und im Verhältnis zu seinem Vorlieferanten Preisanpassungsklauseln und -steigerungen akzeptiert, die über das hinausgehen, was zur Anpassung an den Markt und die Marktentwicklung im Vorlieferantenverhältnis erforderlich ist (vgl. zu einer entsprechenden Einschränkung des Änderungsrechts von Banken bei Zinsänderungsklauseln in Kreditverträgen BGHZ 97, 212, 217 ff., 222; 158, 149, 155).“
Wenn der Gesetzgeber erkennbar wollte, dass die Preisänderungen der Versorger im Rahmen ihrer gesetzlichen Versorgungspflicht der gerichtlichen Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB unterliegen sollen, dann ist eine Einschränkung dieser Kontrolldichte bei einem im Wege ergänzender Vertragsauslegung ersatzweise für das unwirksame gesetzliche Preisänderungsrecht eingeführten Preisänderungsrecht nicht nachvollziehbar.
Ziel des § 1 EnWG ist unter anderem eine verbraucherfreundliche Energieversorgung.
Die Aspekte des Verbraucherschutzes wie von der EU- Richtlinie gefordert und der Verbraucherfreundlichkeit sind insbesondere bei einer Einschränkung der Kontrolldichte bei der vorgenommenen Abwägung wohl unberücksichtigt geblieben.
Mag man noch die Einräumung eines einseitigen, an keine weiteren Bedingungen geknüpften Preisänderungsrechts im Wege ergänzender Vertragsauslegung als geboten ansehen.
Die Einschränkung der Kontrolldichte erscheint jedenfalls nicht geboten, erforderlich und gerechtfertigt.
energienetz:
Zeitung für kommunale Wirtschaft, November 2015, Seite 12:
"Grundversorger zitterten seit einem Jahr vor diesem Urteil, daher war die Überraschung perfekt: Es hätte für sie nicht erfreulicher ausgehen können".
tangocharly:
Wenn das Zittern jetzt ein Ende hat, dann kann ja wieder munter und lustig auf die Verbraucher eingeschlagen werden.
Und wie man das jetzt mit viel Spass unternehmen kann, auch dafür hat der 8.ZS-BGH die Richtung gezeigt. Das Zauberwort heißt: § 287 Abs. 2 ZPO
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