27.02.2008
Stadtwerke Lingen GmbH, Gaspreis, Einwand gem. § 315 BGB
Landgericht Osnabrück Urteil vom 22.02.2008 - 2 S 636/06 (Berufung)
vorher Amtsgericht Lingen 13.11.2006 - 12 C 423 / 06 (X)
… (Kläger) ./. Stadtwerke Lingen GmbH (Beklagte)
Einzelfallentscheidung
Das Landgericht Osnabrück hat mit Urteil vom 22.02.2008 in diesem konkreten Einzelfall die Erhöhung des Preisbestandteils „Arbeitspreis“ am Gas-Gesamtpreis zum 01.01.2005, 01.10.2005 und 01.01.2006 für angemessen, d.h. billig befunden.
LG Osnabrück: „… Ob die Voraussetzungen für die Billigkeit einer Preiserhöhung [im] konkreten Fall gegeben waren, stellt demgegenüber eine tatrichterliche Würdigung dar, die im Einzelfall zu entscheiden ist. …“
Einzelheiten zu diesem Urteil sind auf der Web-Seite der Kanzlei Bauer & Kollegen, Lingen (Ems) nachzulesen.
Die Lingener Tagepost (LT) hat darüber am 23.02.2008 in einem ausführlichen Artikel „Stadtwerke gewinnen vor Landgericht – Gaspreiserhöhung Thema im Berufungsverfahren – Amtsgericht Lingen bezieht andere Position“ objektiv und ausgewogen berichtet.
„Wir sind ein großes Stück weiter, wissen aber noch nicht, wie weit“, formuliert es Boss [Geschäftsführer der Stadtwerke Lingen GmbH] in der Lingener Tagespost am 23.02.2008.
Wie die 2.Zivilkammer am LG Osnabrück mit unvollständigen und fragwürdigen Beweisen und Beweismitteln festgestellt haben will, dass die Preiserhöhungen der Billigkeit entsprechen, wird ihr Geheimnis bleiben.
Fragwürdig sind nicht ersichtliche Beweise (Darlegungs- und Beweislast) und Beweisanträge.
LG Osnabrück: „Zudem ist das Gericht an den Antrag des Klägers gebunden, der ausdrücklich verlangt hat, festzustellen, dass die zum 01.01.2005, 01.10.2005 und 01.01.2006 durchgeführte Erhöhung der Gaspreise unwirksam war.“
Kann man aus dem Urteil einen „Artenschutz“ für einen regionalen Versorgungsträger herauslesen?
LG Osnabrück: „Es reicht vielmehr aus, dass sie als regionale Versorgungsträger plausibel macht …“
Bisher hat die Stadtwerke Lingen GmbH ihre Gaspreispreiserhöhungen zum Arbeitspreis mit dem Heizölpreis „HEL Deutschland“ begründet.
LG Osnabrück: „… Wegen der vertraglich vereinbaren Bindung des Gaspreises an die Weltmarktpreise für Öl müsse allein aufgrund dort eingetretener Veränderungen eine Neukalkulation vorgenommen werden. …“
Die Stadtwerke Lingen GmbH ist ein Tochterunternehmen im Konzern Wirtschaftsbetriebe Lingen GmbH. Ab Wirtschaftsjahr 2002 wird nur noch der Konzern-Jahresabschluss der Wirtschaftsbetriebe Lingen GmbH veröffentlicht, und zwar entsprechend § 325 HGB durch Bekanntmachung im Bundesanzeiger und Einreichung (Offenlegung) beim Registergericht Osnabrück (vormals Handelsregister Lingen), für das Bilanzjahr 2006 im elektronischen Bundesanzeiger.
Zum Jahresabschluss der Tochter Stadtwerke Lingen GmbH steht im Konzernabschluss der Hinweis: „Für die Stadtwerke Lingen GmbH, Lingen, wird gemäß § 264 Abs. 3 HGB von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, von der Offenlegung des Jahresabschlusses abzusehen.“
Die Stadtwerke Lingen GmbH ist ein Energieversorgungsunternehmen gem. § 3 Nr. 18 Energiewirtschaftsgesetz vom 7. Juli 2005 (EnWG2005).
§ 10 Abs.1 EnWG 2005
„Energieversorgungsunternehmen haben ungeachtet ihrer Eigentumsverhältnisse und ihrer Rechtsform einen Jahresabschluss nach den für Kapitalgesellschaften geltenden Vorschriften des Handelsgesetzbuchs aufzustellen, prüfen zu lassen und offen zu legen.“
Die spezielle gesetzliche Bestimmungen des § 10 EnWG2005 (als gesetzliche Spezialregelung) hat Vorrang vor der allgemeinen gesetzlichen Bestimmung des § 264 HGB.
Danach müssen auch die Stadtwerke Lingen GmbH ihre Jahresabschlüsse beim zuständigen Registergericht, nunmehr elektronischer Bundesanzeiger, einreichen und veröffentlichen.
Der Konzern-Jahresabschluss der Wirtschaftsbetriebe GmbH gewährt nur eine begrenzte Einsicht insbesondere in die Gewinn-Gestaltung der Stadtwerke Lingen GmbH; diese soll offensichtlich für ihre Kunden und die Bürger der Stadt Lingen (Ems) nicht ablesbar sein.
Gleichwohl lassen sich auch hier einige Erkenntnisse zur Gewinnentwicklung bei der Stadtwerke Lingen GmbH ableiten.
Umsatzerlöse (netto) Gesamt aus Strom, Gas, Wasser und Wärmeversorgung:
2004 = 46 851,0 T€; 2005 = 51.530,0 T€; 2006 = 58.459,0 T€.
Jahresergebnis gewöhnliche Geschäftstätigkeit (abgeleitet!):
2004 = 10.483,6 T€; 2005 = 8.619,9 T€, 2006 = 10.671,0 T€.
Umsatz-Rendite Strom, Gas Wasser:
2004 = 22,4 %; 2005 = 16,7 %; 2006 = 18,3 %.
Umsatzerlöse Erdgas: 2004 = 22.664,0 T€; 2005 = 25.460,0 T€; 2006 = 29.218,0 T€.
Absatzmengen Erdgas: 2004 = 652.102 TkWh; 2005 = 618.816 TkWh; 2006 = 593.407 TkWh.
Durchschnittspreis Erdgas: 2004 = 3,48 Ct/kWh; 2005 = 4,11 Ct/kWh; 2006 = 4,92 Ct/kWh.
Eine Kalkulation als Ausfluss einer Kosten- und Leistungsrechnung lässt sich nicht aus einer Gewinn- und Verlustrechnung und schon gar nicht aus einer Bilanz entnehmen. Die G. und V. ist mit dem von der Stadtwerke Lingen GmbH gewählten Gesamtkostenverfahren in Bezug auf die Aufwandarten ohnehin nicht ergiebig.
Die Stadtwerke Lingen GmbH ist kein „Einprodukt-Unternehmen“.
Aufwand und Kosten sind zu unterscheiden. Inwieweit Aufwand auch Kosten sind, ist Gegenstand einer Kosten- und Leistungsrechnung.
Keine ausreichend prüfbaren Beweise, stattdessen „Erklärungen und Erinnerungen“ eines Mitarbeiters des Versorgers als Zeugen.
Es ist mehr als erstaunlich, zu welchen Geschäftsfeldern ein „Vertriebsleiter“ als Zeuge gerichtsfeste Aussagen machen muss.
Wirtschaftunternehmen in der Größenordnung der Stadtwerke Lingen GmbH haben hier z.B. eine umfangreiche Abteilung Rechnungswesen. Stattdessen versucht man es mit einem Wirtschaftsprüfer.
Inwieweit eine „Tabellenkalkulation“ einer gerichtsfesten Darlegungs- und Beweispflicht genügt, sei dahingestellt. Einem ordnungsgemäßen Rechnungswesen mit einer integrierten Kosten- und Leistungsrechnung und daraus resultierender aussage- und beweiskräftiger Kostenträgerrechnung (Deckungsbeiträge) entspricht eine „Tabellenkalkulation“ jedenfalls nicht. Eine „Tabellenkalkulation“ lässt nicht erkennen, wie die Kostenarten über die Kostenstellen zu den Kostenträgern (z.B. Gas, Strom, Wasser) kommen, und auch nicht, ob die Kosten verursachungsgemäß auf alle Kostenträger (im Urteil AG Lingen vom 13.11.2006 als „Spartenergebnis Gasversorgung“ bezeichnet) verrechnet wurden.
Eine separate „Tabellenkalkulation“ lässt einen großen „Gestaltungsspielraum“.
Wie erfolgt z.B. die Kostenzuordnung der Verwaltungskosten im Konzern „Wirtschaftsbetriebe Lingen GmbH“? Haben die Konzerntöchter (Stadtverkehr Lingen GmbH, Stadtwerkewindpark Lingen Ochsenbruch GmbH & Co. KG, Wasserkraftwerk Hanekenfähr GmbH & Co. KG ) der Konzernmutter Wirtschaftsbetriebe Lingen GmbH (Einrichtungen ruhender Verkehr wie Parkhäuser, Tiefgaragen sowie Linusbad) eigene Verwaltungseinheiten? Der Stadtwerken Lingen GmbH obliegt nur die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser. Die beiden Geschäftsführer sind in allen Unternehmen „in Personalunion“ tätig. Sie sind aber auch im Zusammenhang mit dem neuen Bauhof (LT vom 02.09.2006 „Wirtschaftsbetriebe als Bauherr“) und dem Hochwasserschutz (LT vom 23.02.2007 „Geschäftsführer der Stadtwerke referierten“) tätig.
Es fehlt an „Sachverstand“.
Das Department für Management und Technik der Fachhochschule in Lingen, bei der Ludger Tieke seine Diplomarbeit zum Thema kommunale Kosten- und Leistungsrechnung in Verbindung mit der Stadt Lingen (Ems) geschrieben hat (Lingener Tagespost vom 11.08.2007) und die Berufsakademie Lingen wären sicher einem mit der kameralistischen Buchhaltung groß gewordenen kommunalen Betrieb beim Übergang zu einem integrierten Rechnungswesen eines Wirtschaftsbetriebes behilflich.
LG Osnabrück: „… Der Zeuge Varel hat erklärt, im Jahr 2005 sei der Rohgewinn (vor Steuer) der Beklagten deutlich niedriger ausgefallen als im Jahr 2004. Erst im Jahr 2006 habe sich das betriebswirtschaftliche Ergebnis wieder erholt, allerdings nicht mehr ganz den Stand von 2004 erreicht. Nach seiner Erinnerung sei im Jahr 2004 ein Rohgewinn (vor Steuer) von 4 Mio., im Jahr 2005 einer in Höhe von 2,5 Mio. und im Jahr 2006 einer in Höhe von etwas weniger als 4 Mio. erwirtschaftet worden. …“
2004: Umsatzerlöse 22.664,0 T€, Rohgewinn 4,0 Mio.€ = Umsatzrendite 17,7 %.
2005: Umsatzerlöse 25.460,0 T€, Rohgewinn 2,5 Mio. € = Umsatzrendite 9,8 %.
2006: Umsatzerlöse 29.218,0 T€, Rohgewinn (gesch. 3,7 Mio. €) = Umsatzrendite 12,7 %.
Die „Erinnerungszahlen“ zum so genannten Rohgewinn sind unglaubwürdig zu niedrig.
Die Umsatzrenditen sind auch in dieser Höhe nicht mit den Grundsätzen aus §§ 1, 2 EnWG2005 vereinbar.
BGH Urteil vom 02.10.1991 - VIII ZR 240/90 (NJW-RR 1992, 183): „ … Abweichend von anderen Wirtschaftszweigen kommt hier dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung nur eingeschränkte Bedeutung zu … Das Prinzip der Preiswürdigkeit der Energieversorgung hat seinen Niederschlag in den einschlägigen Gesetzen und Rechtsverordnungen gefunden … “
LG Osnabrück: „… Insoweit hat der Zeuge Varel plausibel ausgeführt, die in der Bilanz einzubeziehenden Kosten setzten sich im Wesentlichen aus 3 Positionen zusammen, und zwar aus Personalkosten, Kosten für Abschreibungen sowie den so genannten Konzessionsabgaben …“
Dem Zeugen Vertriebsleiter ist also „plausibel“, dass es drei in der Bilanz einzubeziehende wesentliche Kosten gibt. Die drei genannten Kostenarten findet man üblicherweise nicht in der Bilanz, sondern als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung.
Die Konzessionsabgabe beträgt seit Jahren unverändert 0,27 Cent/kWh, ebenso wie die Erdgassteuer mit 0,55 Cent/kWh.
Warum der außerordentliche Aufwand einer „Altlastsanierung“ als Rückstellung kostenrelevant sein soll, ist ungeklärt.
Zu den anderen Kostenbereichen zählen alle Kostenarten, die durch Kostenverrechnung auf den Kostenträger Erdgas Gegenstand der Preiskalkulation sind.
Die Verrechnung der Kostenarten ist verursachungsgemäß auf die Kostenträger Gas, Strom, Wasser und Andere abzugrenzen. Es sind nur solche Kosten zu berücksichtigen, die einer energiewirtschaftlich-rationellen Betriebsführung entsprechen.
Zu berücksichtigen sind u.a. die Netznutzungsentgelte, und zwar sowohl das Entgelt für das regionale Netz der Stadtwerke Lingen GmbH als auch das vorgelagerte Netz des Erdgaslieferanten.
So wurden zum Beispiel von der Bundesnetzagentur für das Jahr 2006 die vorgelagerten Netzentgelte bei den Erdgaslieferanten zum Teil erheblich gesenkt, u.a. bei RWE Westfalen-Weser-Ems Verteilnetz GmbH um ca. 25,9 %. Auch derartige Kostenvorteile sind gem. §§ 1, 2 EnWG an die Verbraucher weiterzugeben.
Die erforderliche Prüfung, ob es Kosteneinsparungen in den anderen Bereichen einer Kalkulation gegeben hat, ist vollkommen verfehlt.
Zum Anfangspreis und zum unsäglichen „Wärmemarkt“ gibt es umfangreiche Stellungnahmen im Forum.
Zu Gutachten und Zeugenbeweis:
BGH-Urteil vom 02.10.1991 – VIII ZR 240/90, Seite 16 ff;
LG Hamburg Beschluss vom 05.04.2006 – 301 O 32/05, Seite 7;
AG Lingen Urteil vom 04.10.2007 – 12 C 925/06 (XI), Seite 7;
Bund der Energieverbraucher – Energiedepesche Sonderheft 1, April 2006, Seite 17 ff., RA Thomas Fricke, Jena;
AG Lingen Urteil vom 06.02.2008 - 12 C 468/07 (X), Seite 5 ff:
„… die Richtigkeit der Bezugskostensteigerung unter Zeugenbeweis gestellt. Dieses Beweismittel ist aber nicht statthaft, weil es sich bei der Höhe der Bezugskostensteigerung um eine Sachverständigenfrage handelt. … Wirtschaftsprüfer … Insoweit handelt es sich lediglich um ein Privatgutachten. … Es kommt also nicht darauf an, ob der Zeuge auf einem Papier die vorgetragenen Zahlen gesehen hat. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Zeugen die Zahlen für richtig halten. Es kommt darauf an, dass sachverständigenseits die Richtigkeit der Zahlen nachgeprüft werden kann. …“
Einzelheiten zu diesem Urteil sind auf der Web-Seite der Kanzlei Bauer & Kollegen, Lingen (Ems) nachzulesen.
Zurzeit sind beim Landgericht Osnabrück noch zwei weitere Urteile des Amtsgerichts Lingen in der Berufung:
Urteil vom 19.09.2007 – Az: 12 C 993/06 (X), Gaspreis Tarifkunde Sperrandrohung,
Kläger Verbraucher;
Urteil vom 04.10.2007 – AZ: 12 C 925/06 (XI), Gaspreis Sonderkunde (Gewerbebetrieb),
Kläger Versorger;
Hinzu kommt wahrscheinlich:
Urteil vom 06.02.2008 – AZ: 12 C 468/07 (X), Gaspreis Tarifkunde,
Kläger Verbraucher.
Abgesehen von der Abwendung der Versorgungssperre ist es bemerkenswert, dass sich zwei Verbraucher als Einzelkläger (AG Lingen 13.11.2006 und 06.02.2008 ) veranlasst sehen, nur die Billigkeit von Erhöhungen des Arbeitspreises – und nicht den Gesamtpreis - gerichtlich feststellen zu lassen.
Zurzeit beim BGH eingereichte Revisionen zu Gaspreis-Urteilen:
VIII ZR 351/06 Beschluss 15.01.2008: LG Karlsruhe Urteil vom 03.02.2006 – 9 S 300/05;
KZR 2/07 Verhandlung am 04.03.2008: OLG Dresden Urteil vom 11.12.2006 – U 1426 Kart;
VIII ZR 138/07 Verhandlung am 28.05.2008: LG Duisburg Urteil vom 10.05.2007 – 5 S 76/06;
VIII ZR 274/06 Verhandlung ?: LG Bonn Urteil vom 07.09.2006 – 8 S 146/05.
… und wo ist der „Rechtsfrieden“?
Mit freundlichen Grüßen