BGH benötigt Navigationshilfe vom EuGH
Leitsatz:
Der VIII Senat des BGH hat sich mit seiner ergänzenden Vertragsauslegung argumentativ in eine Sackgasse manövriert, aus der er nur mit der Navigationshilfe des EuGH wieder herausfinden kann.
Mit seinen Leitsatzentscheidungen vom 23.01.2013,
BGH, VIII ZR 80/12 und
BGH, VIII ZR 52/12 sowie mit einer Reihe weiterer Urteile vom gleichen Tag setzt der VIII Zivilsenat seine Linie vom 14.03.2012,
BGH, VIII ZR 113/11 zur ergänzenden Vertragsauslegung bei unwirksamen Preisanpassungsklauseln in standardisierten Energieversorgungsverträgen mit Haushaltssonderkunden fort.
In meinem
Eingangsbeitrag habe ich aufgezeigt, warum die Entscheidung des BGH vom 14.03.2012 die EU-Verbraucherrechte untergräbt. Keiner der dort ausgeführten Kritikpunkte, wie beispielsweise die nachträgliche und außervertragliche Einführung der Preisbeanstandung als rechtewahrende Obliegenheit für den Verbraucher oder die Entlastung der Versorger von wirtschaftlichen Risiken sogar bei der Abrechnung von missbräuchlich überhöhten Verbraucherpreisen, wurde bislang durch den BGH entkräftet.
Inzwischen hat der BGH die EU-Richtlinie
93/13/EWG (Klausel-RL) zur Kenntnis genommen. In seinen Urteilen vom 23.01.2013 postuliert er nunmehr, dass "auch in Ansehung des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG" eine infolge der Unwirksamkeit einer formularmäßig vereinbarten Preisänderungsklausel nach § 307 BGB entstehende planwidrige Regelungslücke in einem Energieversorgungsvertrag mit einem (Norm-)Sonderkunden im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) dahingehend geschlossen werden kann, dass der Kunde die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen kann, wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtig worden ist, beanstandet hat (Fortführung der Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, …).
Dass diese vom BGH entworfene Möglichkeit der Lückenfüllung eine EU-rechtlich zulässige Option darstellt, ist allerdings in Ansehung der Auslegung des Art. 6 der EU-RL 93/13 durch den EuGH in dessen
Urteil vom 14.06.2012, C-618/10 höchst zweifelhaft. Selbst wenn man der Ansicht des BGH folgen wollte, dass der genannte Art. 6 Abs. 1 einer ergänzenden Vertragsauslegung nicht grundsätzlich entgegen steht, so darf diese keinesfalls dazu führen, den von der EU intendierten hohen Verbraucherschutz auszuhöhlen. Doch genau das ist die Folge der BGH-Rechtsprechung.
Der BGH irrt aber schon im Ansatz, denn er behauptet in seinem Urteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter Rn 27, dass gegen eine ergänzende Vertragsauslegung keine europarechtlichen Bedenken bestünden, da in der Richtlinie 93/13/EWG nicht geregelt sei, unter welchen Voraussetzungen der Vertrag ohne die unwirksame Klausel fortgelte.
Die vom BGH vermisste Regelung findet sich in Art. 6 Abs.1, zweiter Teilsatz der besagten Richtlinie in einer unmissverständlichen Klarheit, wo es heißt: "… sie (die Mitgliedstaaten) sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“ Dies ist eine der zentralen europarechtlichen Bestimmungen zur Durchsetzung eines hohen Verbraucherschutzes und sie ist dahin zu verstehen, dass der Vertrag nach Beseitigung der missbräuchlichen Klauseln in unveränderter Form mit den verbleibenden Klauseln fortbestehen muss, sofern dies rechtlich möglich ist, was bereits begrifflich jegliche Ersetzung von Klauseln bzw. Anpassung des Vertrags ausschließt, siehe Schlussantrag der Generalanwältin, Rn 85.
In keinem seiner bisherigen Urteile hat der BGH überzeugende Argumente dafür vorgetragen, warum er diese EU-Regelung im Hinblick auf die Vertragsbeziehungen von Energieversorgern mit Normsonderkunden faktisch außer Kraft gesetzt hat. Seine diesbezüglichen Begründungen sind vielmehr, wie nachfolgend aufgezeigt wird, einseitig interessenorientiert und unschlüssig.
Wortgetreue Auslegung des Art. 6 durch den EuGH
Was man im Hinblick auf missbräuchliche Klauseln unter einem hohen Verbraucherschutz gemäß der EU-RL 93/13 zu verstehen hat, ist im EuGH-Urteil unter den Rz 39,40, 58-73 sehr anschaulich dargelegt. Danach würde die Möglichkeit einer nachträglichen Anpassung des Vertrags durch den Richter die beabsichtigte hohe Abschreckungswirkung, die von Art. 6 der Richtlinie ausgeht, nicht nur entschärfen, sondern sogar den umgekehrten Effekt bewirken.
Der EuGH ist damit den
Schlussanträgen seiner Generalanwältin vom 14.02.2012 , siehe Rn 2, 29 – 30, 79 – 89, gefolgt, die durch eine nachträgliche Anpassung des Vertrags die praktische Wirksamkeit der EU-Richtlinie nicht mehr sichergestellt sieht. Dies würde dem unionsrechtlichen Verbot, die Ziele einer Richtlinie durch mitgliedsstaatliche Umsetzungsakte zu vereiteln, zuwiderlaufen. Bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts muss das nationale Gericht deshalb das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen, um die volle Wirksamkeit von Art. 6 Abs. 1 der EU-RL 93/13 zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht. Von diesen klaren Vorgaben darf gemäß Art. 8 der EU-RL 93/13 nur insoweit abgewichen werden als dadurch ein noch höheres Schutzniveau für die Verbraucher gewährleistet wird. Art. 8 impliziert, dass eine Absenkung des Schutzniveaus von den Mitgliedstaaten und deren Organe auszuschließen ist.
Mit seiner prägnanten Auslegung des Art. 6 der EU-RL 93/13 lässt der EuGH keinen Raum für irgendwelche eigenwilligen ergänzenden Vertragsauslegungen bei missbräuchlichen Klauseln in Verträgen mit Verbrauchern. Die ergänzende Vertragsauslegung, wie sie der BGH zu Lasten der Energieverbraucher vorgenommen hat, kommt einer geltungserhaltenden Reduktion sehr nahe und bedeutet damit eine verbotswidrige Anpassung des Vertrags, die den Zweck des Art. 6 der EU-RL 93/13 konterkariert.
Problem: BGH gewährt hohen Versorgerschutz anstatt hohen Verbraucherschutz
Der BGH nimmt in seinem Leitsatzurteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter den Rz 24-34 Bezug auf das EuGH-Urteil. Allerdings wundert man sich, wie der BGH die eindeutigen Regelungen der EU-RL missinterpretiert, so dass im Ergebnis seiner fragwürdigen ergänzenden Vertragsauslegung nicht ein hoher Verbraucherschutz sondern ein hoher Versorgerschutz herauskommt, wie bereits in meinem
Eingangsbeitrag nachzulesen ist.
Der BGH behauptet in seinem Leitsatzurteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter Rn 32, dass die vom Senat vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung der Zielsetzung der Richtlinie 93/13/EWG entspreche. Diese Behauptung entpuppt sich als unzutreffend. Der BGH hat nämlich nicht verinnerlicht, dass die EU-Richtlinie in erster Linie die Verbraucher schützen will, weil sie sich gegenüber dem Energieversorger in einer unterlegenen Position befinden. Er hat ferner übersehen, dass die EU-Richtlinie, insbesondere Art. 6, eine hohe Abschreckungskraft entfalten soll, damit Energieversorger wirksam davon abgehalten werden, die schwache Position der Verbraucher missbräuchlich auszunutzen.
Am offensichtlichsten wird die Unhaltbarkeit der BGH-Argumentation daran, dass er den zwischen Energieversorger und Verbraucher vereinbarten Vertragspreis nicht mehr gelten lassen will. Damit stellt sich der BGH diametral gegen den europarechtlichen Grundsatz, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Eine der entscheidenden Vertragsgrundlagen, die bindend bleiben, ist somit der vereinbarte Preis. Es ist auch nicht ersichtlich, warum der Vertrag mit dem vereinbarten Preis und ohne die missbräuchliche Klausel nicht bestehen bleiben kann.
Die vom BGH vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung führt dazu, dass die vom Energieversorger im Zeitraum vor der dreijährigen Beanstandungsfrist abgerechneten Preise trotz unwirksamer Preisanpassungsklausel Bestand haben. Für den BGH ist es dabei unbeachtlich, ob diese Preise missbräuchlich überhöht sind oder nicht. Missbräuchliche Preise können auf zwei Wegen entstehen, zum einen durch überzogene Preiserhöhungen und zum anderen durch unterlassene Preissenkungen. Da der Verbraucher keinen Zugang zu den internen Kalkulationen seines Versorgers hat, kann er nicht beurteilen, ob die abgerechneten Preise berechtigt sind. Der BGH sieht trotzdem keine Veranlassung, eine Überprüfung der Preise vorzunehmen, die vom vereinbarten Anfangspreis abweichen.
Und auch innerhalb der vom BGH erfundenen dreijährigen Beanstandungsfrist wirkt die Bestandsgarantie des BGH selbst für überhöhte Preise fort. Der Verbraucher soll nämlich ausschließlich Preiserhöhungen, nicht aber missbräuchlich unterlassene Preissenkungen, rügen können. Das ist geradezu eine Einladung für die Versorger, ein einmal erreichtes hohes Preisniveau nicht oder nicht so stark wie eigentlich von der Kostenseite her geboten abzusenken, um so das vertragliche Gleichgewicht zum Nachteil des Verbrauchers zu verschieben. Durch seine Rechtsprechung hat der BGH den Verbrauchern den Weg versperrt, sich gegen solche missbräuchlichen Praktiken von Versorgern wirksam zu wehren.
Im Ergebnis schützt der BGH also nicht die Interessen der Verbraucher sondern die der Versorger. Er befreit sie von einem Großteil der selbst verschuldeten Risiken, die der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln innewohnen. Dies hält der BGH selbst dann für angebracht, wenn die Preise missbräuchlich gestaltet sind. Man kann somit feststellen, dass sich die Gefahren der Verwendung von missbräuchlichen Preisanpassungsklauseln dank der ergänzenden Vertragsauslegung des BGH für die Versorger in engen Grenzen halten. Und das gilt sogar für solche Versorger, die sich bewusst über ihre eigenen Preisanpassungsklauseln hinweg gesetzt und stattdessen ihre Preise nach Belieben bestimmt haben.
Lösung: Wortgetreue Anwendung des Art. 6 Abs.1 der EU-RL 93/13
Es liegt auf der Hand, dass diese Art eines privilegierten Versorgerschutzes wenig Anlass bietet, auf die Verwendung missbräuchlicher Klauseln zu verzichten. Im Gegenteil, der BGH setzt sogar einen Anreiz für die Versorger, die geschaffene Rechtslage zu Lasten der Verbraucher auszunutzen. Der BGH hat damit die von der EU beabsichtigte hohe Abschreckungswirkung des Art. 6 Abs. 1 zweiter Teilsatz der EU-RL 93/13 weitestgehend relativiert.
Die vom EuGH in seinem Urteil vom 14.06.2012 unter Rn 72 genannte Pflicht des nationalen Gerichtes, nämlich „alles zu tun, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht …“, hat der BGH erkennbar nicht erfüllt. Anstatt eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen, hätte der BGH die vorrangige Norm des Art. 6 Abs. 1 der EU-RL 93/13 wortgetreu anwenden müssen.
Die Begründungen des BGH für die ergänzende Vertragsauslegung sind unschlüssig
Die vom BGH vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung verstößt nicht nur gegen europäisches Recht, sie leidet auch daran, dass die dafür vorgetragenen Begründungen in sich unschlüssig sind. Der BGH stellt darauf ab, „was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie bedacht hätten, dass die Wirksamkeit der verwendeten Preisänderungsklausel jedenfalls unsicher war.“ Selbst wenn man diesem vom BGH entworfene Maßstab folgen wollte, so führt er gewiss nicht zu den Schlussfolgerungen wie sie der BGH gezogen hat.
Warum sollte sich ein Verbraucher beispielsweise einer Preisbeanstandungspflicht unterwerfen, die seine verbrieften und unabdingbaren EU-Verbraucherrechte einschränken würde? Da er die Redlichkeit seines Versorgers und die Angemessenheit der abgerechneten Preise mangels Verfügbarkeit der dazu notwendigen Informationen nicht selbst nachprüfen kann, wäre der Verbraucher genötigt, stets prophylaktisch die Preisänderungen zu rügen. Ansonsten liefe er Gefahr, seine Rechte nicht mehr durchsetzen zu können. Die vom BGH erfundene Preisbeanstandungspflicht, beschert dem Verbraucher lediglich Nachteile. Anders verhält es sich bei den Versorgern. Denn falls ein im Verbraucherecht weniger informierter Durchschnittsverbraucher seine Preisbeanstandungspflicht nicht beachtet, nützt das dem Versorger, denn seine abgerechneten Preise werden dann sukzessive, selbst wenn sie missbräuchlich festgesetzt waren, unangreifbar.
Der BGH hat die Preisbeanstandungspflicht erstmals mit
Urteil vom 14.03.2012, VIII ZR 113/11 zu einer neuen Obliegenheit für Verbraucher erhoben und dies nicht nur für die Zukunft sondern sogar rückwirkend. Es muss schon befremden, wenn der BGH in der Vergangenheit begründete Verbraucheransprüche von der Erfüllung bestimmter Pflichten abhängig macht, die es bis dato weder vertraglich noch gesetzlich gegeben hat, von denen der Verbraucher folglich keine Kenntnis haben und sie deshalb nicht befolgen konnte.
Die vom BGH erfundene Preisbeanstandung muss auch fristgemäß innerhalb von drei Jahren erfolgen, um zugunsten des Verbrauchers zu wirken. Nach Ablauf der Frist soll eine wirksame Rüge ausgeschlossen und folglich der juristische Weg für eine Durchsetzung von Verbraucheransprüchen selbst dann versperrt sein, wenn die Ansprüche ansonsten berechtigt wären. Die vom BGH getroffene Annahme, dies sei eine lebensnahe Regelung gemäß Treu und Glauben und würde die beiderseitigen Parteiinteressen angemessen berücksichtigen, ist unhaltbar. Warum sollte ein Verbraucher seinem Versorger einen solchen Freibrief ausstellen und sich ohne Not seiner Rechte begeben?
Zumindest aber hätte der Verbraucher mit seinem Versorger vereinbart, dass der Rügeausschluss keinesfalls für überhöhte Preisforderungen und für missbräuchlich unterlassene Preissenkungen gelten kann und zwar ohne zeitliches Limit. Ein Verbraucher würde seinem Versorger wohl kaum freiwillig unredliche Praktiken, wie beispielsweise die vielfach übliche Einpreisung zweckfremder Kosten zur Querfinanzierung defizitärer Geschäftsfelder, zugestehen und sich selbst seiner Abwehrmöglichkeiten berauben, zumal sich ein missbräuchliches Verhalten regelmäßig erst nach Jahren - wenn überhaupt - herausstellt.
Der BGH argumentiert desweiteren, dass es für die Versorger eine unzumutbare Härte bedeuten würde, wenn sie an den vertraglichen Anfangspreis gebunden blieben. Das Vertragsgefüge würde sich völlig einseitig zugunsten des Verbrauchers verschieben. Dies ist allerdings lediglich eine Vermutung des BGH, für die er eine stichhaltige Begründung schuldig bleibt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Versorger aufgrund der Verjährung der Kundenansprüche bereits weitgehend geschützt sind. Sie müssen die verjährten Kundenansprüche, die sich gegebenenfalls über viele Jahre aufsummieren selbst dann nicht auskehren, wenn sich der Versorger missbräuchlich bereichert hat. Eine Rückzahlungspflicht trifft den Versorger also nur für maximal drei zurückliegende Jahre und auch nur dann, wenn er das selbstverschuldete Risiko eingegangen ist, eine missbräuchliche Klausel anzuwenden.
Hat es der Versorger in den vergangenen drei Jahren unterlassen, seine Preise zu senken, so bestehen für ihn nach der Logik des BGH keinerlei Rückzahlungsrisiken, und zwar selbst dann nicht, wenn wie oben erläutert, die unterlassene Preissenkung missbräuchlich war und im bereits verjährten Zeitraum überhöhte Preise abgerechnet wurden. Aus alledem lässt sich schlussfolgern, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer unzumutbaren Härte auf Seiten des Versorgers ziemlich gering ist. Trotzdem hält es der BGH für nicht angebracht, einen Nachweis über das Vorliegen einer unzumutbaren Härte zu verlangen. Stattdessen gewährt der BGH den Versorgern einen zusätzlichen Schutz dahingehend, dass er sie vom vertraglichen Anfangspreis entbindet. Daraus erwächst eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich das Vertragsgefüge, entgegen der Ansicht des BGH, völlig einseitig zu Gunsten des Versorgers verschiebt.
Die ergänzende Vertragsauslegung mutiert zur Regelanwendung
Laut BGH, Urteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12, Rn 35, findet die ergänzende Vertragsauslegung nicht in jedem Fall einer unwirksamen Preisanpassungsklausel in einem Energielieferungsvertrag, sondern nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen Anwendung. Diese Aussage wäre eigentlich zu begrüßen, sie kollidiert aber leider mit der Wirklichkeit. Viele Instanzengerichte machen sich inzwischen gar nicht mehr die Mühe zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung vorliegen, sondern berufen sich pauschal auf den BGH mit dem Hinweis, dieser habe die von ihm aufgezeigte ergänzende Vertragsauslegung für generell anwendbar erklärt. Tatsächlich ist die vom BGH behauptete Begrenzung auf eng umgrenzte Ausnahmefälle nicht nachvollziehbar, wenn man sich die von ihm definierten Ausnahmefälle näher betrachtet.
Gemäß seiner Ausführungen habe der BGH die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung in einer Reihe von Fällen verneint, die dadurch gekennzeichnet waren, dass das Energieversorgungsunternehmen es selbst in der Hand hatte, einer nach Widerspruch oder Vorbehaltszahlung des Kunden zukünftig drohenden unbefriedigenden Erlössituation durch Ausübung des ihm vertraglich eingeräumten Kündigungsrechts in zumutbarer Weise zu begegnen. Dieser verklausulierten Erklärung bedeutet, dass in den Fällen, in denen ein Verbraucher keine Preisbeanstandung abgegeben hat, die ergänzende Vertragsauslegung im Sinne des BGH zur Anwendung kommen kann. Damit hat der BGH die Ausnahme zur Regel gemacht. Denn nur ein sehr geringer Anteil der Verbraucher hat in der Vergangenheit gegen die Energiepreise Einspruch erhoben. Die Masse der Verbraucher hat dies nicht getan, denn die Preisbeanstandung war bis zum Urteil des BGH vom 14.03.2012 keine zu beachtende Obliegenheit.
Darüber hinaus nimmt der BGH bei langjährigen Gasversorgungsverträgen im Regelfall eine nicht mehr hinnehmbare Störung des Vertragsgefüges an, wenn der Verbraucher, ohne zuvor die Preise beanstandet zu haben, Rückzahlungsansprüche geltend macht. Dass diese Annahme unzutreffend ist, wurde oben dargelegt. Laut BGH sei aber auch für diese Fälle die ergänzende Vertragsauslegung anzuwenden. Da für die Verbraucher bis vor kurzem keine ausreichenden Wechselmöglichkeiten bestanden und sie daher an ihren Versorger gebunden waren, liegen in der Regel längerfristige Vertragsbeziehungen vor. Der BGH hat also dafür gesorgt, dass seine fragwürdige ergänzende Vertragsauslegung landauf landab regelmäßig und nicht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zur Anwendung kommt und auf diese Weise die Missachtung der europäischen Verbraucherschutznormen in deutschen Gerichtssälen zum Alltag zu werden droht.
Die EU-Richtlinie 93/13/EWG existiert seit 1993
Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen existiert seit nunmehr 20 Jahren. Sie datiert vom 5. April 1993 und wurde im Amtsblatt L 95 vom 21. April 1993, S. 29 veröffentlicht.
Gemäß Art. 10 Abs.1 der Richtlinie waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um dieser Richtlinie spätestens am 31. Dezember 1994 nachzukommen.
Diese Vorschriften gelten für alle Verträge, die nach dem 31. Dezember 1994 abgeschlossen werden.
Seit 20 Jahren kennen die Energieversorger die Verbraucherschutzbestimmungen der EU und wissen, oder müssten wissen, welches die Rechtsfolgen der Verwendung missbräuchlicher Klauseln sind. Es bestand deshalb nicht der geringste Anlass für den BGH, sich mit seinem fragwürdigen Konstrukt einer ergänzenden Vertragsauslegung schützend vor die Energieversorger zu stellen. Es hätte dem BGH besser angestanden, den Rechtsbestimmungen der EU-RL 93/13 unmissverständlich und nachdrücklich Geltung zu verschaffen.
Schlussbemerkung
Warum sich der VIII. Senat am höchsten deutschen Zivilgericht so vehement um den Schutz der Energieversorger und so wenig um den Schutz der Energieverbraucher bemüht, ist schwer zu begreifen.
Bleibt im Sinne der deutschen Energieverbraucher zu hoffen, dass sich bald ein Richter findet, der die vom BGH erfundene ergänzende Vertragsauslegung von sich aus verwirft oder sie wenigstens dem EuGH zur Überprüfung vorlegt.