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Autor Thema: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht  (Gelesen 35404 mal)

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Offline courage

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Leitsatz:
Das Richterrecht des BGH vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrechte und ist deshalb von den Instanzengerichten nicht anzuwenden.

1. Das vom BGH mit Urteil vom 14.03.2012, VIII ZR 113/11 gesetzte Richterrecht hebelt die EU-Verbraucherrechte aus. Dies betrifft die vom BGH vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung bei unwirksamen Preisanpassungsklauseln in standardisierten Energieversorgungsverträgen mit Haushaltssonderkunden.

2. Der BGH hat die Wirkung einer Preisrüge des Kunden zeitlich begrenzt und zwar auf die Preise der in den drei zurückliegenden Jahren zugegangenen Jahresrechnungen. Darüber hinaus soll sich der Kunde nicht mehr auf den anfänglichen Vertragspreis berufen können (Rn. 19). Der Kunde soll vielmehr nur noch Rechte ausschließlich aus unwirksamen Preiserhöhungen (Rn. 21) innerhalb der dreijährigen Rückwirkungsfrist geltend machen können.

3. Als erstes ergibt sich aus dem Urteil folgende zwingende Schlussfolgerung: Sofern der Versorger es unterlassen hat, seine Preise innerhalb des Dreijahreszeitraumes zu senken, selbst wenn er dazu verpflichtet gewesen wäre, kann der Kunde daraus keine Rechte, sprich Rückforderungsansprüche, herleiten. Denn Ansprüche des Kunden können sich laut BGH ausschließlich aus unwirksamen Preiserhöhungen ergeben. Missbräuchlich unterlassene Preissenkungen sind demzufolge nicht angreifbar.

4. Von Seiten der Versorger wird das Richterrecht des BGH zudem so ausgelegt, dass auch ein vertragswidriges Verhalten des Versorgers keine ausgleichenden Rechte des Kunden begründen können. Ein nicht untypisches vertragswidriges Verhalten besteht beispielsweise darin, dass sich der Versorger nicht an seine eigene Preisanpassungsklausel für den Grund- bzw. Arbeitspreis gehalten sondern seine Preise nach Belieben festgelegt hat. Aus Sicht der Kunden ist allerdings zu bezweifeln, dass der BGH sogar ein vertragswidriges Verhalten schützen wollte (siehe Absatz 14).

5. Mit seinem Richterrecht hat der BGH einen Schutzschirm für die Versorger aufgespannt, indem er die berechtigten Ansprüche der Kunden drastisch beschnitten hat. Damit hat der BGH einen Großteil der Risiken, die der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln innewohnen, von den Versorgern weggenommen und gleichzeitig auf die betroffenen Kunden verlagert. Die Risikoentlastung der Versorger findet dabei in doppelter Hinsicht statt. Zum einen in zeitlicher Hinsicht, indem das Risiko auf höchsten drei zurückliegende Jahre begrenzt wird. Zum anderen in preislicher Hinsicht, indem nicht mehr auf einen früheren und ggf. niedrigeren Vertragspreis sondern nur noch auf die im dreijährigen Zeitraum erfolgten Preiserhöhungen abgestellt werden darf.

6. Die höchst bedenklichen Konsequenzen dieses BGH-Richterrechts lassen sich durch folgende Überlegung veranschaulichen: Wenn der Versorger innerhalb des rückwirkenden Dreijahreszeitraum keine Preiserhöhungen vorgenommen hat, kann der Kunde keinerlei Ansprüche geltend machen; auch nicht aus einer missbräuchlich unterlassenen Preissenkung. Der Versorger ist darüber hinaus von jeglichem Risiko auch für den Fall befreit, dass er in der Zeit vor dem Dreijahreszeitraum eine missbräuchliche Preisanpassungsklausel verwendet und sich daraus unberechtigte wirtschaftliche Vorteile zu Lasten des Kunden verschafft hat. Denn die bis zum Beginn des Dreijahreszeitraumes erfolgten Preisbestimmungen des Versorgers haben laut BGH selbst dann Bestand, wenn die Verbraucherpreise missbräuchlich überhöht sind.

7. Bis zum Urteil des BGH vom 14.03.2012 ging die überwiegende Rechtsauffassung davon aus, dass die Ansprüche des Kunden im Falle einer unwirksamen Preisanpassungsklausel auf der Grundlage des zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vereinbarten Vertragspreises zu bestimmen sind und zwar ohne dass es auf vom Kunden erhobene Widersprüche gegen nachfolgende Preiserhöhungen ankäme. Es schien bis dahin klar, dass der Verwender einer missbräuchlichen Preisanpassungsklausel das daraus entstehende Risiko selbst zu tragen hat. Diese Rechtsauffassung war auch für einen juristisch nicht vorgebildeten Kunden klar und verständlich.

8. Die vom BGH seit dem 14.03.2012 geschaffene Rechtslage ist dagegen für einen Normalverbraucher nicht mehr nachvollziehbar und offensichtlich einseitig auf die Interessen der Versorger zugeschnitten. Die rechtliche Vorzugsbehandlung der Versorger durch den BGH erscheint auch deswegen nicht sachgerecht, weil diese aufgrund der Verjährungsvorschriften des BGB vor den Folgen der Verwendung einer unwirksamen Preisanpassungsklausel bereits weitgehend geschützt sind.

9. Jedenfalls verkennt der BGH mit seinem Richterrecht vom 14.03.2012, dass die Verbraucherinteressen nicht weniger schutzwürdig sind und dass dies in den EU-Richtlinien 93/13/EWG (Klausel-RL)und 2003/55/EG (Gas-RL)sowie 2003/54/EG (Strom-RL) auch verbindlich geregelt ist.

10. Schon die Ansicht des BGH, es käme auf eine Rüge des Kunden an, damit er seiner Rechte nicht verlustig geht (Rn. 21), führt zur Benachteiligung der Kunden und zu einer unzulässigen Verlagerung der Risiken. Kein Verbraucher geht davon aus, dass er seinem Energieversorger bei jeder Preisanpassung und bei jeder Änderung von Geschäftsbedingungen den eigenen Rechtsstandpunkt mitteilen muss, damit er seine Verbraucherrechte nicht verliert.

11. Vielmehr darf sich ein Verbraucher darauf verlassen, dass Art. 6 der EU-Richtlinie 93/13/EWG gilt, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind. Ein Verbraucher darf sich desweiteren darauf verlassen, dass gemäß Art. 7 derselben Richtlinie die Mitgliedstaaten – und hier sind auch die Gerichte des Mitgliedsstaates Deutschland angesprochen - dafür sorgen, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.

12. Der BGH hätte sich insbesondere Art. 5 der EU-Richtlinie 93/13/EWG vor Augen führen sollen, wonach bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel die für den Verbraucher günstigste Auslegung gilt, d.h. Unklarheiten von Klauseln zu Lasten des Verwenders gehen. Die EU räumt dem Verbraucherschutz einen hohen Stellenwert ein und die Mitgliedstaaten haben diesen gemäß Art. 3 Abs.3 der Gas-RL 2003/55/EG und der Nachfolge-RL 200973/EG, sowie gemäß Art. 3 Abs. 5 der Strom-RL 2003/54/EG zu gewährleisten. Es kann daher nicht angehen, dass der BGH mit seinem Richterrecht die europäischen Normen konterkariert.

13. So ist auch die vom BGH in die Welt gesetzte Ansicht, wonach sich ein Kunde nicht mehr auf den anfänglichen Vertragspreis berufen können soll, nicht mit Art. 6 Abs. 1 der EU-Richtlinie 93/13/EWG vereinbar. Dort ist nämlich klar geregelt, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Demnach bleibt also der anfängliche Vertragspreis für den Kunden und den Versorger bindend. Diese Regelung korrespondiert mit dem Grundsatz, dass der Verwender von unwirksamen Klauseln auch das Risiko dafür trägt. Die EU-Bestimmungen geben nichts dafür her, dass von diesem Grundsatz zu Lasten der Kunden abgewichen werden kann. Dies wird auch von der Generalanwältin des EuGH so gesehen, siehe Schlussanträge vom 13. September 2012 in der Rechtssache C-92/11, wo sie unter Rn. 89 zum Risiko von Kostensteigerungen sagt: „Das ist jedoch ein Risiko, das er aufgrund der Vorgaben der Richtlinie 93/13 selbst zu tragen hat. Dies erscheint insbesondere deshalb nicht unbillig, weil er diese Konsequenz durch die Verwendung intransparenter Allgemeiner Geschäftsbedingungen selbst verursacht hat.“ Eine Verlagerung des Kostenrisikos auf den Kunden, wie es das Richterrecht des BGH vorsieht, ist danach rechtswidrig. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Versorger aufgrund der Verjährung der Kundenansprüche bereits geschützt ist (siehe Absatz 8 ).

14. Soweit von Versorgern gern behauptet wird, der BGH habe am 12.03.2012 ein vertragstreues und redliches Verhalten nicht zur Voraussetzung für eine ergänzende Vertragsauslegung gemacht, so dass das BGH-Richterrecht auch in Fällen von vertragswidrigem Verhaltens anzuwenden wäre (siehe Absatz 4), ist ein Blick in die Erwägungsgründe der EU-Richtlinie 93/13/EWG sehr aufschlussreich. Dort wird zu den Kriterien, nach denen die Missbräuchlichkeit von Klauseln unter Berücksichtigung der Interessenlage der Parteien zu beurteilen sind, und zum Gebot von Treu und Glauben ausgeführt: "Bei der Beurteilung von Treu und Glauben ist besonders zu berücksichtigen, welches Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien bestand ... Dem Gebot von Treu und Glauben kann durch den Gewerbetreibenden Genüge getan werden, indem er sich gegenüber der anderen Partei, deren berechtigten Interessen er Rechnung tragen muss, loyal und billig verhält." Daraus ist zu entnehmen, dass bei einem Versorger, der sich vertragswidrig verhalten und damit gegen die Treuegebote gegenüber den Kunden verstoßen hat, die Vorgaben der EU-Richtlinien wohl erst Recht ohne Abstriche und streng anzuwenden sind. Die vom BGH veranlasste Verwässerung des europarechtlich normierten Kundenschutzes kann nicht zur Anwendung kommen.

15. Das Richterrecht des BGH verstößt auch gegen § 195 BGB. Die vom BGH auf drei Jahre begrenzte Rückwirkungsfrist des Preiswiderspruchs hebelt nämlich die Verjährungsvorschriften des BGB zu Lasten des Kunden aus. Denn Forderungen, die noch nicht verjährt sind, würden durch den BGH entwertet, wenn sie nicht mehr durchsetzbar wären (quasi eine Enteignung). Auch die generelle Aushebelung des ursprünglichen Vertragspreises, also des beiderseitigen Parteiwillens, steht im Gegensatz zur Vertragsfreiheit. Absolut unverständlich wird ein solches Richterrecht zudem dann, wenn es auch noch das vertragswidrige Verhalten des Versorgers nachträglich unter Schutz stellt und damit den vertragstreuen Vertragspartner überrumpelt und als naiven Dummkopf dastehen lässt. Nach meinem Verständnis steht das Gesetz (§ 195 BGB) über dem Richterrecht des BGH.

16. Es ist jetzt höchste Zeit, dass die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte ihrer Verpflichtung gerecht werden, die Verbraucherrechte durch richtlinienkonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts endlich effektiv durchzusetzen. Das kontraproduktive Richterrecht des BGH darf dabei kein Hinderungsgrund sein. Diesbezüglich haben bereits das OLG Oldenburg mit Beschluss vom 14.12.2010, 12 U 49/07 als auch das OLG Düsseldorf mit Urteil vom 13.06.2012, VI-2 U (Kart) 10/11 Maßstäbe gesetzt.
« Letzte Änderung: 23. September 2012, 18:30:40 von courage »

Offline Christian Guhl

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Re: Eon-Avacon beruft sich auf BGH-Urteil vom 14.03.2012
« Antwort #1 am: 27. September 2012, 10:56:45 »
@courage
Ich habe den Beitrag mit Interesse gelesen. Nur - wie kommt man damit an den EuGH ? Das kann doch nur der BGH selbst veranlassen. Oder ?

Offline RR-E-ft

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht
« Antwort #2 am: 27. September 2012, 21:53:09 »
@courage

Um eine Fachdiskussion hierüber ebenso wie eine Berücksichtigung in der Rechtsprechung zu ermöglichen, erscheint es notwendig, diese Auffassung zu publizieren, nicht allein in diesem Forum, sondern in Form einer Urteilsanmerkung oder gar eines Aufsatzes in einer möglichst auflagenstarken anerkannten Fachzeitschrift.   

Offline bolli

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Re: Re: Eon-Avacon beruft sich auf BGH-Urteil vom 14.03.2012
« Antwort #3 am: 28. September 2012, 08:03:28 »
Unter bestimmten Bedingungen kann dieses auch ein OLG veranlassen, wie es das OLG Oldenburg 2010 ja schon mal gemacht hat ( siehe hier: OLG Oldenburg, B. v. 14.12.10 Az. 12 U 49/07 EuGH- Vorlage wegen BGH- Auslegung zur Transparenz )

Offline courage

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht
« Antwort #4 am: 28. September 2012, 10:21:49 »
@ Christian Guhl

Zunächst ist im Verfahren vor den Instanzengerichten ein entsprechender Vortrag anzubringen.
Wie es dann weiter geht, hängt davon ab, wie sich das Gericht verhält. Im Idealfall folgt es der Argumentation und urteilt entsprechend. Falls der Idealfall aber nicht eintritt, ist zu entscheidend, wie darauf zu reagieren ist. So muss man sich durch die Instanzen kämpfen. Vielleicht wendet sich ein Gericht, spätestens hoffentlich das Letztentscheidende, mit einer Vorlagefrage an den EuGH. Wie die Prozessführung zu gestalten und welche dienlichen Anträge dazu bei Gericht zu stellen sind, sollte der eigene Anwalt wissen.

Offline tangocharly

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht
« Antwort #5 am: 29. September 2012, 18:54:57 »
Bei aller (verstehbar) empathischer Vorfreude über die Schlußanträge der GAin wollen wir doch derzeitig nicht aus dem Auge verlieren, dass das Fell des Bären erst verteilt werden kann, wenn er gefangen wurde.

Wenn Ihnen schon Amtsrichter trotz Vorlage der Streitfragen durch den BGH und Aussetzung der Folgeverfahren gem. § 148 ZPO analog, trotzig eine Fallentscheidung liefern und das Verfahren beim dortigen Gericht nicht aussetzen wollen, was glauben Sie, werden dann die salbungsvollen Worte der GAin beim EuGH bei solchen Herrschaften auslösen.

Das letzte Wort hat der EuGH - Punkt.
« Letzte Änderung: 29. September 2012, 20:32:56 von tangocharly »
<<Der Preis für die Freiheit ist die Verantwortung>>

Offline courage

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht
« Antwort #6 am: 05. November 2012, 10:02:54 »
Rechtsanwalt Dr. Jörg Schendel, Berlin, kommentiert in EWeRK 4/2012 die BGH-Urteile vom 14.03.2012, VIII ZR 113/11 und VIII ZR 93/11, kritisch:
Zitat
Ebenfalls unbefriedigend ist schließlich die rechtliche Bedeutung, die einer weder vertraglich noch gesetzlich vorgesehenen "Beanstandung" der Preiserhöhung zuerkannt wird, …
siehe dazu auch den Eingangsbeitrag, insbes. unter Abs. 7 und 10.

Offline Lothar Gutsche

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BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 nach den Urteilen vom 23.1.2013
« Antwort #7 am: 13. Februar 2013, 21:25:00 »
Die Ausführungen von Nutzer "courage" sind in sehr ähnlicher Form inzwischen in Heft 6/2012 der Zeitschrift für Neues Energierecht (ZNER) publiziert worden, dort als Kurzbeitrag auf den Seiten 590 - 591.

Wilhelm Zimmerlin: Der Schutz von Energieverbrauchern in der Rechtsprechung des 8. Zivilsenats des BGH und nach EU-Recht, ZNER Heft 6/2012, S. 590 - 591

Diesen Aufsatz fasse ich wie folgt zusammen: Der BGH hat mit dem Urteil VIII ZR 113/11 vom 14.3.2012 die „Preisbeanstandung zu einer neuartigen Obliegenheit der Haushaltskunden von Energieverbrauchern erhoben.“ Von solchen rechtewahrenden Pflichten ist weder in den bisherigen Energieverträgen noch im Gesetz etwas zu finden. Außerdem gilt nach dem Urteil: „Missbräuchlich unterlassene Preissenkungen sind demzufolge nicht angreifbar.

Die Ansicht des BGH, es käme auf eine Beanstandung des Kunden an, damit er seiner Rechte nicht verlustig geht, führt zur Benachteiligung der Kunden und im Sinne des Verbraucherschutzes zu einer europarechtlich unzulässigen Verlagerung der Versorgerrisiken auf die Kunden. Stattdessen sind die Verbraucherrechte durch richtlinienkonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts effektiv durchzusetzen:
  • Nach Art. 6 der EU-Richtlinie 93/13/EWG (Klausel-Richtlinie) sind missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich.
  • Gemäß Art. 7 der EU-Richtlinie 93/13/EWG müssen die Mitgliedstaaten – und hier sind auch die Gerichte des Mitgliedsstaates Deutschland angesprochen – dafür sorgen, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
  • Nach Art. 5 der EU-Richtlinie 93/13/EWG gilt bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel die für den Verbraucher günstigste Auslegung.
  • Die Ansicht des BGH, wonach sich ein Kunde nicht mehr auf den anfänglichen Vertragspreis berufen können soll, ist nicht mit Art. 6 Abs. 1 der EU-Richtlinie 93/13/EWG vereinbar. Dort ist nämlich eindeutig geregelt, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Demnach bleibt also der anfängliche Vertragspreis für den Kunden und den Versorger bindend. Diese Regelung korrespondiert mit dem Grundsatz, dass der Verwender von unwirksamen Klauseln auch das Risiko dafür trägt.

Der Nutzer "courage" hatte auch schon auf die Kritik des Rechtsanwaltes Dr. Jörg Schendel von der Berliner Kanzlei EggersMalmendier unter dem Titel in EWeRK 4/2012, Seite 145 – 147, hingewiesen. In diesem Aufsatz charakterisiert Dr. Schendel die BGH-Rechtsprechung VIII ZR 113/11 und VIII ZR 93/11 vom 14.3.2012 unter  http://www.pvs.nomos.de/fileadmin/ewerk/doc/2012/Ewerk_12_04_03.pdf  von Rechtsanwalt Dr. Jörg Schendel : „Es handelt sich um eine reine richterliche Rechtsfortbildung ohne rechte Grundlage in Vertrag oder Gesetz.

Und nun meldet sich am 23.01.2013 der VIII. Zivilsenat des BGH mit einer ganzen Reihe von Urteilen, in denen er sich mit unwirksamen Preisänderungsklauseln in Sonderverträgen zur Gasversorgung Euskirchen beschäftigt. Unter den vielen Fällen mit den Aktenzeichen VIII ZR 100/12, VIII ZR 23/12, VIII ZR 24/12, VIII ZR 345/11, VIII ZR 59/12, VIII ZR 60/12, VIII ZR 61/12, VIII ZR 79/12, VIII ZR 80/12 und VIII ZR 99/12 befindet sich auch ein Leitsatzurteil (VIII ZR 80/12) mit den drei folgenden Leitsätzen:

a) Auch in Ansehung des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG kann eine infolge der Unwirksamkeit einer formularmäßig vereinbarten Preisänderungsklausel nach § 307 BGB entstehende planwidrige Regelungslücke in einem Energieversorgungsvertrag mit einem (Norm-)Sonderkunden im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) dahingehend geschlossen werden, dass der Kunde die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen kann, wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat (Fortführung der Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, NJW 2012, 1865, Rn. 19 ff., zur Veröffentlichung in BGHZ 192, 372 bestimmt, und VIII ZR 93/11, ZNER 2012, 265, Rn. 24 ff.).
b) Ist die in einem Energieversorgungsvertrag mit einem (Norm-)Sonderkunden formularmäßig vereinbarte Preisänderungsklausel nach § 307 BGB unwirksam, verbleiben das Kalkulations- und damit auch das Kostensteigerungsrisiko grundsätzlich bei dem Energieversorgungsunternehmen (Fortführung des Senatsurteils vom 25. Oktober 1989 - VIII ZR 105/88, BGHZ 109, 139, 145). Dessen Verpflichtung zur Herausgabe der von dem Kunden rechtsgrundlos gezahlten Erhöhungsbeträge ist daher nicht gemäß § 818 Abs. 3 BGB ausgeschlossen.
c) Die Verjährung von Rückzahlungsansprüchen wegen Gaspreisüberzahlungen beginnt nicht bereits mit den jeweils geleisteten Abschlagszahlungen, sondern erst mit der anschließenden Erteilung der Jahresabrechnung zu laufen (Bestätigung des Senatsurteils vom 23. Mai 2012 - VIII ZR 210/11, NJW 2012, 2647 Rn. 9 ff.).


Der 1. Leitsatz und die zugehörige Begründung in den juris-Randnummern 24 - 37 erwecken den Eindruck, als habe der VIII. Zivilsenat unter dem Vorsitz des Richters Wofgang Ball den Verbraucherschutz aus den EU-Richtlinien umfassend  berücksichtigt, wenn er den Energieversorgungstrag einer ergänzenden Vertragsauslegung unterzieht. Es bleiben die offensichtlichen Widersprüche zu den Ansichten von Wilhelm Zimmerlin und Dr. Jörg Schendel. Hoffentlich vertiefen oder korrigieren beide Autoren ihre Kritik im Licht der neuen BGH-Urteile, damit die juristischen Laien und untere Gerichtsinstanzen eine ordentliche Basis haben, um im Falle unwirksamer Preisanpassungsklauseln die Rückforderungsansprüche richtig beziffern zu können.

Im Sinne des Preisgünstigkeitsgebotes von § 1 EnWG scheint mir die Lösung sachgerechter, die der VIII. Zivilsenat des BGH in juris-Randnummer 37 des Urteils VIII ZR 80/12 vom 23.1.2013 selbst skizziert:

Ohne die vom Senat vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung in derartig gelagerten Fällen könnte sich der Energieversorger - auch in Ansehung seiner verfassungsrechtlich geschützten Berufsfreiheit (vgl. BVerfG, aaO) - darauf berufen, dass die Versorgung des Kunden zu dem Ausgangspreis für ihn eine unzumutbare Härte darstelle, wenn der bei dem lange Zeit zurückliegenden Vertragsabschluss vereinbarte Preis seit vielen Jahren nicht mehr kostendeckend ist. Dies hätte gemäß § 306 Abs. 3 BGB die Unwirksamkeit des Liefervertrages zur Folge, so dass das Vertragsverhältnis für die Vergangenheit nach Bereicherungsrecht rückabzuwickeln wäre. Hierbei wäre die materielle Ausgewogenheit der beiderseitigen Leistungen indes nicht in dem gleichen Maße sichergestellt wie bei der ergänzenden Vertragsauslegung. 

Der Vertrag zur Energielieferung wäre unwirksam und müsste für die Vergangenheit nach Bereicherungsrecht rückabgewickelt werden. Bei dieser Rückabwicklung würde die Forderung nach "möglichst preisgünstiger" Lieferung aus § 1 EnWG die Ansprüche des Energieversorgers begrenzen und den Verbraucher nicht völlig von der Kostenentwicklung abkoppeln. An dem gesetzlichen Maßstab der Preisgünstigkeit wäre eine "Ausgewogenheit der beiderseitigen Leistungen" zu erreichen. Die Beschränkung der Rückforderungsansprüche auf drei Jahre erscheint mir dagegen gerade nicht "ausgewogen".

Mit freundlichen Grüßen
Lothar Gutsche
Email: Lothar.Gutsche@arcor.de

Offline bolli

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 nach den Urteilen vom 23.1.2013
« Antwort #8 am: 14. Februar 2013, 07:51:30 »
Der Vertrag zur Energielieferung wäre unwirksam und müsste für die Vergangenheit nach Bereicherungsrecht rückabgewickelt werden. Bei dieser Rückabwicklung würde die Forderung nach "möglichst preisgünstiger" Lieferung aus § 1 EnWG die Ansprüche des Energieversorgers begrenzen und den Verbraucher nicht völlig von der Kostenentwicklung abkoppeln. An dem gesetzlichen Maßstab der Preisgünstigkeit wäre eine "Ausgewogenheit der beiderseitigen Leistungen" zu erreichen. [/i]".
Wenn man bedenkt, wie hoch schon in den wenigen Fällen, in denen in der Grundversorgung Sachverständigengutachten erstellt wurden, der Aufwand war, wage ich mir gar nicht vorzustellen, wie dieser in Fällen von 30 Jahre zurückliegenden Preisen liegt. Mal ganz davon abgesehen, dass fraglich ist, ob man überhaupt noch alle dafür notwendigen Unterlagen zusammen bekommt, da die Aufbewahrungsfristen für solche Unterlagen bei lange zurückliegenden Verträgen (Lieferverträge) bereits lange abgelaufen sind. Da dürften einige Unmöglichkeiten drin stecken.
Gleichwohl finde ich (natürlich) die 3-Jahresregelung des BGH auch sehr willkührlich und deutlich eher zugunsten der Versorger.

Offline RR-E-ft

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht
« Antwort #9 am: 14. Februar 2013, 10:06:52 »
Der BGH hatte in seinen Entscheidungen vom 14.03.12 Az. VIII ZR 93/11 und VIII ZR 113/11 eine Möglichkeit entwickelt, wie die durch die Unwirksamkeit einer einbezogenen Klausel im Vertragsgefüge entstehende Lücke geschlossen werden können soll.

Zunächst bedarf es jedoch im konkreten Einzelfall der Feststellung der Voraussetzung der ergänzenden Vertragsauslegung, nämlich dass die weitere Vertragsdurchführung für den Versorger eine unzumutbare Härte darstellt.

Zitat
BGH, B. v. 24.04.12 Az. VIII ZR 278/11, juris Rn. 6

Die vom Senat für den Fall der Unwirksamkeit einer vertraglich vereinbarten Preisanpassungsklausel entwickelte Möglichkeit einer ergänzenden Vertragsauslegung (vgl. Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, unter II 3, und VIII ZR 93/11, zur Veröffentlichung bestimmt, unter II 4) kommt vorliegend nicht in Betracht, weil es hierzu an einem ausreichenden Vortrag in den Tatsacheninstanzen fehlt.

Die Klägerin hat  trotz eines entsprechenden Hinweises des Berufungsgerichts - weder den vertraglich vereinbarten Ausgangspreis vorgetragen, noch hat sie dargelegt, dass sich aus den Zahlungen des Beklagten ergibt, dass dieser auch für länger zurück liegende Zeitabschnitte die Unwirksamkeit der Preiserhöhungen geltend macht (vgl. Senatsurteile vom 14. Juli 2010 - VIII ZR 246/08, BGHZ 186, 180 Rn. 52; vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, aaO und VIII ZR 93/11, aaO).


In seiner Leitsatzentscheidung vom 23.01.13 Az. VIII ZR 80/12 scheint der Senat diese entwickelte Möglichkeit zum Dogma erheben zu wollen.

Zitat
BGH, Urt. v. 23.01.13 Az. VIII ZR 80/12, juris Rn. 23:

Wie der Senat - nach Erlass des Berufungsurteils - entschieden hat, ist diese Lücke im Vertrag im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung gemäß §§ 157, 133 BGB in der Weise zu schließen, dass der Kunde die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen kann, wenn er sie nicht in-nerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresab-rechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat (vgl. Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, aaO Rn. 21 ff., und VIII ZR 93/11, aaO Rn. 26 ff.; jeweils mwN).

Dass dabei die Voraussetzungen einer solchen ergänzenden Vertragsauslegung im konkreten Einzelfall geprüft wurden (wie bei BGH, B. v. 24.04.12 Az. VIII ZR 278/11, juris Rn. 6) ist nicht ersichtlich.

An dieser notwendigen Voraussetzung kann es insbesondere dann fehlen, wenn die Kosten, die dem Versorger durch die Belieferung entstehen zwischenzeitlich wieder auf das Niveau abgesunken sind, welches bereits bei der Kalkulation für das Angebot des Ausgangspreises zu Vertragsbeginn zu Grunde gelegt wurde.
Es wäre deshalb zunächst zu prüfen, wie sich die abzudeckenden Kosten zwischenzeitlich tatsählich entwickelt haben.

Allein auf erfolgte einseitige Preisänderungen und den Zeitablauf abzustellen, dürfte deshalb kein hinreichendes Kriterium darstellen.
Im Extremfall ist denkbar, dass alle vorgenommenen einseitigen Preisänderungen ohne entsprechenden Kostenanstieg allein zur Erhöhung des Gewinnanteils vorgenommen wurden.   
« Letzte Änderung: 14. Februar 2013, 10:13:48 von RR-E-ft »

Offline courage

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EuGH erklärt hohen Verbraucherschutz
« Antwort #10 am: 22. Februar 2013, 11:25:25 »
Was man im Hinblick auf missbräuchliche Klauseln unter einem hohen Verbraucherschutz gemäß der EU-RL 93/13 zu verstehen hat, ist im Urteil des EuGH vom 14.06.2012, C-618/10 unter den Rz 39,40, 58-73 sehr anschaulich dargelegt. Die Lektüre wird von mir unbedingt empfohlen.

Der BGH nimmt in seinem Leitsatzurteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter den Rz 24-34 darauf Bezug.

Allerdings reibt man sich verwundert die Augen, wie der BGH die eindeutigen Regelungen der EU-RL so missinterpretiert, dass im Ergebnis seiner äußerst fragwürdigen ergänzenden Vertragsauslegung nicht ein hoher Verbraucherschutz sondern ein hoher Versorgerschutz herauskommt, wie bereits in meinem Eingangsbeitrag nachzulesen ist.

Offline bolli

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Re: EuGH erklärt hohen Verbraucherschutz
« Antwort #11 am: 22. Februar 2013, 13:50:37 »
Allerdings reibt man sich verwundert die Augen, wie der BGH die eindeutigen Regelungen der EU-RL so missinterpretiert, dass im Ergebnis seiner äußerst fragwürdigen ergänzenden Vertragsauslegung nicht ein hoher Verbraucherschutz sondern ein hoher Versorgerschutz herauskommt, wie bereits in meinem Eingangsbeitrag nachzulesen ist.
Das ist halt die eigentliche Kunst in der Juristerei. Das am Ende, egal was zwischendurch gesagt und geschrieben wurde, dass rauskommt, was ich schon immer wollte. Und nur wenn man besonders befähigt in diesem Bereich ist, bekommt man die Möglichkeit, an einem der hohen deutschen Gerichte SEIN Recht sprechen zu dürfen, auch die Formel lautet: "Im Namen des Volkes."  ;D

Offline courage

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EuGH erklärt hohen Verbraucherschutz
« Antwort #12 am: 22. Februar 2013, 18:33:35 »
Äußerst aufschlussreich sind auch die Ausführungen der Generalanwältin des EuGH in ihren Schlussanträgen vom 14.02.2012, Rechtssache C-618/10 , Rn 2, 29 – 30, 79 – 89, im Hinblick auf die Frage:

Was passiert mit einem Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden (z.B. einem Energieversorger), wenn in diesem Vertrag eine unwirksame Klausel (z.B. eine Preisanpassungsklausel) festgestellt wird?

Antwort gemäß Art. 6 Abs.1 der EU-RL 93/13:
Der Vertrag bleibt für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.

Zitat
"Rn 84 … Stattdessen beschränkt sich Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie darauf, die Rechtsfolge der „Unverbindlichkeit“ solcher Klauseln für den Verbraucher vorzuschreiben (101). Entsprechendes ergibt sich auch aus dem 21. Erwägungsgrund. Diese Vorgabe ist, soweit sie reicht, für die Mitgliedstaaten zwingend, so dass keine Abweichungen gestattet sind."

Zitat
"Rn 85 Des Weiteren ist festzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vorschreibt, dass der Vertrag nach Feststellung der Nichtverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel für beide Parteien „auf derselben Grundlage bindend bleiben muss“, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Der 21. Erwägungsgrund besagt insoweit, dass „die verbleibenden Klauseln weiterhin gelten müssen und der Vertrag im Übrigen auf der Grundlage dieser Klauseln für beide Teile verbindlich sein muss“. Die Regelung in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie ist somit dahin zu verstehen, dass der Vertrag nach Beseitigung der missbräuchlichen Klauseln in unveränderter Form mit den verbleibenden Klauseln fortbestehen muss, sofern dies rechtlich möglich ist, was bereits begrifflich jegliche Ersetzung von Klauseln bzw. Anpassung des Vertrags ausschließt."

Der Vertrag bleibt also im Übrigen verbindlich, was auch für den vertraglich vereinbarten Anfangspreis zu gelten hat.

Und entscheidend:
Art. 6 Abs. 1 der EU-RL 93/13 schließt bereits begrifflich jegliche Ersetzung von Klauseln bzw. Anpassung des Vertrags aus.

Zitat
"Rn 87 Um festzustellen, ob eine Anpassung des Vertrags im Wege einer Ersetzung der betreffenden missbräuchlichen Klausel durch eine andere, wie im Ausgangsverfahren vorgenommen, im Widerspruch zu den Vorgaben der Richtlinie 93/13 steht, muss daher untersucht werden, ob diese Anpassung geeignet ist, den Abschreckungseffekt, den eine Prüfung der Missbräuchlichkeit entfaltet, nachhaltig zu beeinträchtigen. Dies würde nämlich bedeuten, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinie nicht mehr sichergestellt wäre, was dem unionsrechtlichen Verbot, die Ziele einer Richtlinie durch mitgliedsstaatliche Umsetzungsakte zu vereiteln, zuwiderlaufen würde."

Zitat
"Rn 88 Eine solche Anpassung des Vertrags führt dazu, dass die Risiken eines Gewerbetreibenden aus der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln im Geschäftsverkehr erheblich gemindert werden. …

Diese Beispiele zeigen, dass die Möglichkeit einer nachträglichen Anpassung des Vertrags durch den Richter die Abschreckungswirkung, die von Art. 6 der Richtlinie ausgeht, nicht nur entschärfen, sondern sogar den umgekehrten Effekt bewirken würde. Vereitelt würden damit die Ziele der Richtlinie 93/13."

Zitat
"Rn 89 … Dem nationalen Gericht obliegt es, diese nationale Regelung richtlinienkonform auszulegen und anzuwenden. Bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts muss das nationale Gericht das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 EG nachzukommen(106)."

Damit besteht keinerlei Spielraum für eine ergänzende Vertragsauslegung, jedenfalls nicht in der Weise wie sie der BGH vorgenommen hat, die faktisch einer geltungserhaltenden Reduktion gleichkommt und damit eine verbotswidrige Anpassung des Vertrages bedeutet.

Offline courage

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BGH benötigt Navigationshilfe vom EuGH
« Antwort #13 am: 24. Februar 2013, 18:21:52 »
BGH benötigt Navigationshilfe vom EuGH

Leitsatz:
Der VIII Senat des BGH hat sich mit seiner ergänzenden Vertragsauslegung argumentativ in eine Sackgasse manövriert, aus der er nur mit der Navigationshilfe des EuGH wieder herausfinden kann.

Mit seinen Leitsatzentscheidungen vom 23.01.2013, BGH, VIII ZR 80/12 und BGH, VIII ZR 52/12 sowie mit einer Reihe weiterer Urteile vom gleichen Tag setzt der VIII Zivilsenat seine Linie vom 14.03.2012, BGH, VIII ZR 113/11 zur ergänzenden Vertragsauslegung bei unwirksamen Preisanpassungsklauseln in standardisierten Energieversorgungsverträgen mit Haushaltssonderkunden fort.

In meinem Eingangsbeitrag habe ich aufgezeigt, warum die Entscheidung des BGH vom 14.03.2012 die EU-Verbraucherrechte untergräbt. Keiner der dort ausgeführten Kritikpunkte, wie beispielsweise die nachträgliche und außervertragliche Einführung der Preisbeanstandung als rechtewahrende Obliegenheit für den Verbraucher oder die Entlastung der Versorger von wirtschaftlichen Risiken sogar bei der Abrechnung von missbräuchlich überhöhten Verbraucherpreisen, wurde bislang durch den BGH entkräftet.

Inzwischen hat der BGH die EU-Richtlinie 93/13/EWG (Klausel-RL) zur Kenntnis genommen. In seinen Urteilen vom 23.01.2013 postuliert er nunmehr, dass "auch in Ansehung des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG" eine infolge der Unwirksamkeit einer formularmäßig vereinbarten Preisänderungsklausel nach § 307 BGB entstehende planwidrige Regelungslücke in einem Energieversorgungsvertrag mit einem (Norm-)Sonderkunden im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) dahingehend geschlossen werden kann, dass der Kunde die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen kann, wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtig worden ist, beanstandet hat (Fortführung der Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, …).

Dass diese vom BGH entworfene Möglichkeit der Lückenfüllung eine EU-rechtlich zulässige Option darstellt, ist allerdings in Ansehung der Auslegung des Art. 6 der EU-RL 93/13 durch den EuGH in dessen Urteil vom 14.06.2012, C-618/10 höchst zweifelhaft. Selbst wenn man der Ansicht des BGH folgen wollte, dass der genannte Art. 6 Abs. 1 einer ergänzenden Vertragsauslegung nicht grundsätzlich entgegen steht, so darf diese keinesfalls dazu führen, den von der EU intendierten hohen Verbraucherschutz auszuhöhlen. Doch genau das ist die Folge der BGH-Rechtsprechung.

Der BGH irrt aber schon im Ansatz, denn er behauptet in seinem Urteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter Rn 27, dass gegen eine ergänzende Vertragsauslegung keine europarechtlichen Bedenken bestünden, da in der Richtlinie 93/13/EWG nicht geregelt sei, unter welchen Voraussetzungen der Vertrag ohne die unwirksame Klausel fortgelte.

Die vom BGH vermisste Regelung findet sich in Art. 6 Abs.1, zweiter Teilsatz der besagten Richtlinie in einer unmissverständlichen Klarheit, wo es heißt: "… sie (die Mitgliedstaaten) sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“ Dies ist eine der zentralen europarechtlichen Bestimmungen zur Durchsetzung eines hohen Verbraucherschutzes und sie ist dahin zu verstehen, dass der Vertrag nach Beseitigung der missbräuchlichen Klauseln in unveränderter Form mit den verbleibenden Klauseln fortbestehen muss, sofern dies rechtlich möglich ist, was bereits begrifflich jegliche Ersetzung von Klauseln bzw. Anpassung des Vertrags ausschließt, siehe Schlussantrag der Generalanwältin, Rn 85.

In keinem seiner bisherigen Urteile hat der BGH überzeugende Argumente dafür vorgetragen, warum er diese EU-Regelung im Hinblick auf die Vertragsbeziehungen von Energieversorgern mit Normsonderkunden faktisch außer Kraft gesetzt hat. Seine diesbezüglichen Begründungen sind vielmehr, wie nachfolgend aufgezeigt wird, einseitig interessenorientiert und unschlüssig.

Wortgetreue Auslegung des Art. 6 durch den EuGH

Was man im Hinblick auf missbräuchliche Klauseln unter einem hohen Verbraucherschutz gemäß der EU-RL 93/13 zu verstehen hat, ist im EuGH-Urteil unter den Rz 39,40, 58-73 sehr anschaulich dargelegt. Danach würde die Möglichkeit einer nachträglichen Anpassung des Vertrags durch den Richter die beabsichtigte hohe Abschreckungswirkung, die von Art. 6 der Richtlinie ausgeht, nicht nur entschärfen, sondern sogar den umgekehrten Effekt bewirken.

Der EuGH ist damit den Schlussanträgen seiner Generalanwältin vom 14.02.2012 , siehe Rn 2, 29 – 30, 79 – 89, gefolgt, die durch eine nachträgliche Anpassung des Vertrags die praktische Wirksamkeit der EU-Richtlinie nicht mehr sichergestellt sieht. Dies würde dem unionsrechtlichen Verbot, die Ziele einer Richtlinie durch mitgliedsstaatliche Umsetzungsakte zu vereiteln, zuwiderlaufen. Bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts muss das nationale Gericht deshalb das innerstaatliche Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen, um die volle Wirksamkeit von Art. 6 Abs. 1 der EU-RL 93/13 zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht. Von diesen klaren Vorgaben darf gemäß Art. 8 der EU-RL 93/13 nur insoweit abgewichen werden als dadurch ein noch höheres Schutzniveau für die Verbraucher gewährleistet wird. Art. 8 impliziert, dass eine Absenkung des Schutzniveaus von den Mitgliedstaaten und deren Organe auszuschließen ist.

Mit seiner prägnanten Auslegung des Art. 6 der EU-RL 93/13 lässt der EuGH keinen Raum für irgendwelche eigenwilligen ergänzenden Vertragsauslegungen bei missbräuchlichen Klauseln in Verträgen mit Verbrauchern. Die ergänzende Vertragsauslegung, wie sie der BGH zu Lasten der Energieverbraucher vorgenommen hat, kommt einer geltungserhaltenden Reduktion sehr nahe und bedeutet damit eine verbotswidrige Anpassung des Vertrags, die den Zweck des Art. 6 der EU-RL 93/13 konterkariert.

Problem: BGH gewährt hohen Versorgerschutz anstatt hohen Verbraucherschutz

Der BGH nimmt in seinem Leitsatzurteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter den Rz 24-34 Bezug auf das EuGH-Urteil. Allerdings wundert man sich, wie der BGH die eindeutigen Regelungen der EU-RL missinterpretiert, so dass im Ergebnis seiner fragwürdigen ergänzenden Vertragsauslegung nicht ein hoher Verbraucherschutz sondern ein hoher Versorgerschutz herauskommt, wie bereits in meinem Eingangsbeitrag nachzulesen ist.

Der BGH behauptet in seinem Leitsatzurteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12 unter Rn 32, dass die vom Senat vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung der Zielsetzung der Richtlinie 93/13/EWG entspreche. Diese Behauptung entpuppt sich als unzutreffend. Der BGH hat nämlich nicht verinnerlicht, dass die EU-Richtlinie in erster Linie die Verbraucher schützen will, weil sie sich gegenüber dem Energieversorger in einer unterlegenen Position befinden. Er hat ferner übersehen, dass die EU-Richtlinie, insbesondere Art. 6, eine hohe Abschreckungskraft entfalten soll, damit Energieversorger wirksam davon abgehalten werden, die schwache Position der Verbraucher missbräuchlich auszunutzen.

Am offensichtlichsten wird die Unhaltbarkeit der BGH-Argumentation daran, dass er den zwischen Energieversorger und Verbraucher vereinbarten Vertragspreis nicht mehr gelten lassen will. Damit stellt sich der BGH diametral gegen den europarechtlichen Grundsatz, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Eine der entscheidenden Vertragsgrundlagen, die bindend bleiben, ist somit der vereinbarte Preis. Es ist auch nicht ersichtlich, warum der Vertrag mit dem vereinbarten Preis und ohne die missbräuchliche Klausel nicht bestehen bleiben kann.

Die vom BGH vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung führt dazu, dass die vom Energieversorger im Zeitraum vor der dreijährigen Beanstandungsfrist abgerechneten Preise trotz unwirksamer Preisanpassungsklausel Bestand haben. Für den BGH ist es dabei unbeachtlich, ob diese Preise missbräuchlich überhöht sind oder nicht. Missbräuchliche Preise können auf zwei Wegen entstehen, zum einen durch überzogene Preiserhöhungen und zum anderen durch unterlassene Preissenkungen. Da der Verbraucher keinen Zugang zu den internen Kalkulationen seines Versorgers hat, kann er nicht beurteilen, ob die abgerechneten Preise berechtigt sind. Der BGH sieht trotzdem keine Veranlassung, eine Überprüfung der Preise vorzunehmen, die vom vereinbarten Anfangspreis abweichen.

Und auch innerhalb der vom BGH erfundenen dreijährigen Beanstandungsfrist wirkt die Bestandsgarantie des BGH selbst für überhöhte Preise fort. Der Verbraucher soll nämlich ausschließlich Preiserhöhungen, nicht aber missbräuchlich unterlassene Preissenkungen, rügen können. Das ist geradezu eine Einladung für die Versorger, ein einmal erreichtes hohes Preisniveau nicht oder nicht so stark wie eigentlich von der Kostenseite her geboten abzusenken, um so das vertragliche Gleichgewicht zum Nachteil des Verbrauchers zu verschieben. Durch seine Rechtsprechung hat der BGH den Verbrauchern den Weg versperrt, sich gegen solche missbräuchlichen Praktiken von Versorgern wirksam zu wehren.

Im Ergebnis schützt der BGH also nicht die Interessen der Verbraucher sondern die der Versorger. Er befreit sie von einem Großteil der selbst verschuldeten Risiken, die der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln innewohnen. Dies hält der BGH selbst dann für angebracht, wenn die Preise missbräuchlich gestaltet sind. Man kann somit feststellen, dass sich die Gefahren der Verwendung von missbräuchlichen Preisanpassungsklauseln dank der ergänzenden Vertragsauslegung des BGH für die Versorger in engen Grenzen halten. Und das gilt sogar für solche Versorger, die sich bewusst über ihre eigenen Preisanpassungsklauseln hinweg gesetzt und stattdessen ihre Preise nach Belieben bestimmt haben.

Lösung: Wortgetreue Anwendung des Art. 6 Abs.1 der EU-RL 93/13

Es liegt auf der Hand, dass diese Art eines privilegierten Versorgerschutzes wenig Anlass bietet, auf die Verwendung missbräuchlicher Klauseln zu verzichten. Im Gegenteil, der BGH setzt sogar einen Anreiz für die Versorger, die geschaffene Rechtslage zu Lasten der Verbraucher auszunutzen. Der BGH hat damit die von der EU beabsichtigte hohe Abschreckungswirkung des Art. 6 Abs. 1 zweiter Teilsatz der EU-RL 93/13 weitestgehend relativiert.

Die vom EuGH in seinem Urteil vom 14.06.2012 unter Rn 72 genannte Pflicht des nationalen Gerichtes, nämlich „alles zu tun, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel im Einklang steht …“, hat der BGH erkennbar nicht erfüllt. Anstatt eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen, hätte der BGH die vorrangige Norm des Art. 6 Abs. 1 der EU-RL 93/13 wortgetreu anwenden müssen.

Die Begründungen des BGH für die ergänzende Vertragsauslegung sind unschlüssig

Die vom BGH vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung verstößt nicht nur gegen europäisches Recht, sie leidet auch daran, dass die dafür vorgetragenen Begründungen in sich unschlüssig sind. Der BGH stellt darauf ab, „was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie bedacht hätten, dass die Wirksamkeit der verwendeten Preisänderungsklausel jedenfalls unsicher war.“ Selbst wenn man diesem vom BGH entworfene Maßstab folgen wollte, so führt er gewiss nicht zu den Schlussfolgerungen wie sie der BGH gezogen hat.

Warum sollte sich ein Verbraucher beispielsweise einer Preisbeanstandungspflicht unterwerfen, die seine verbrieften und unabdingbaren EU-Verbraucherrechte einschränken würde? Da er die Redlichkeit seines Versorgers und die Angemessenheit der abgerechneten Preise mangels Verfügbarkeit der dazu notwendigen Informationen nicht selbst nachprüfen kann, wäre der Verbraucher genötigt, stets prophylaktisch die Preisänderungen zu rügen. Ansonsten liefe er Gefahr, seine Rechte nicht mehr durchsetzen zu können. Die vom BGH erfundene Preisbeanstandungspflicht, beschert dem Verbraucher lediglich Nachteile. Anders verhält es sich bei den Versorgern. Denn falls ein im Verbraucherecht weniger informierter Durchschnittsverbraucher seine Preisbeanstandungspflicht nicht beachtet, nützt das dem Versorger, denn seine abgerechneten Preise werden dann sukzessive, selbst wenn sie missbräuchlich festgesetzt waren, unangreifbar.

Der BGH hat die Preisbeanstandungspflicht erstmals mit Urteil vom 14.03.2012, VIII ZR 113/11 zu einer neuen Obliegenheit für Verbraucher erhoben und dies nicht nur für die Zukunft sondern sogar rückwirkend. Es muss schon befremden, wenn der BGH in der Vergangenheit begründete Verbraucheransprüche von der Erfüllung bestimmter Pflichten abhängig macht, die es bis dato weder vertraglich noch gesetzlich gegeben hat, von denen der Verbraucher folglich keine Kenntnis haben und sie deshalb nicht befolgen konnte.

Die vom BGH erfundene Preisbeanstandung muss auch fristgemäß innerhalb von drei Jahren erfolgen, um zugunsten des Verbrauchers zu wirken. Nach Ablauf der Frist soll eine wirksame Rüge ausgeschlossen und folglich der juristische Weg für eine Durchsetzung von Verbraucheransprüchen selbst dann versperrt sein, wenn die Ansprüche ansonsten berechtigt wären. Die vom BGH getroffene Annahme, dies sei eine lebensnahe Regelung gemäß Treu und Glauben und würde die beiderseitigen Parteiinteressen angemessen berücksichtigen, ist unhaltbar. Warum sollte ein Verbraucher seinem Versorger einen solchen Freibrief ausstellen und sich ohne Not seiner Rechte begeben?

Zumindest aber hätte der Verbraucher mit seinem Versorger vereinbart, dass der Rügeausschluss keinesfalls für überhöhte Preisforderungen und für missbräuchlich unterlassene Preissenkungen gelten kann und zwar ohne zeitliches Limit. Ein Verbraucher würde seinem Versorger wohl kaum freiwillig unredliche Praktiken, wie beispielsweise die vielfach übliche Einpreisung zweckfremder Kosten zur Querfinanzierung defizitärer Geschäftsfelder, zugestehen und sich selbst seiner Abwehrmöglichkeiten berauben, zumal sich ein missbräuchliches Verhalten regelmäßig erst nach Jahren - wenn überhaupt - herausstellt.

Der BGH argumentiert desweiteren, dass es für die Versorger eine unzumutbare Härte bedeuten würde, wenn sie an den vertraglichen Anfangspreis gebunden blieben. Das Vertragsgefüge würde sich völlig einseitig zugunsten des Verbrauchers verschieben. Dies ist allerdings lediglich eine Vermutung des BGH, für die er eine stichhaltige Begründung schuldig bleibt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Versorger aufgrund der Verjährung der Kundenansprüche bereits weitgehend geschützt sind. Sie müssen die verjährten Kundenansprüche, die sich gegebenenfalls über viele Jahre aufsummieren selbst dann nicht auskehren, wenn sich der Versorger missbräuchlich bereichert hat. Eine Rückzahlungspflicht trifft den Versorger also nur für maximal drei zurückliegende Jahre und auch nur dann, wenn er das selbstverschuldete Risiko eingegangen ist, eine missbräuchliche Klausel anzuwenden.

Hat es der Versorger in den vergangenen drei Jahren unterlassen, seine Preise zu senken, so bestehen für ihn nach der Logik des BGH keinerlei Rückzahlungsrisiken, und zwar selbst dann nicht, wenn wie oben erläutert, die unterlassene Preissenkung missbräuchlich war und im bereits verjährten Zeitraum überhöhte Preise abgerechnet wurden. Aus alledem lässt sich schlussfolgern, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer unzumutbaren Härte auf Seiten des Versorgers ziemlich gering ist. Trotzdem hält es der BGH für nicht angebracht, einen Nachweis über das Vorliegen einer unzumutbaren Härte zu verlangen. Stattdessen gewährt der BGH den Versorgern einen zusätzlichen Schutz dahingehend, dass er sie vom vertraglichen Anfangspreis entbindet. Daraus erwächst eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich das Vertragsgefüge, entgegen der Ansicht des BGH, völlig einseitig zu Gunsten des Versorgers verschiebt.

Die ergänzende Vertragsauslegung mutiert zur Regelanwendung

Laut BGH, Urteil vom 23.01.2013, VIII ZR 80/12, Rn 35, findet die ergänzende Vertragsauslegung nicht in jedem Fall einer unwirksamen Preisanpassungsklausel in einem Energielieferungsvertrag, sondern nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen Anwendung. Diese Aussage wäre eigentlich zu begrüßen, sie kollidiert aber leider mit der Wirklichkeit. Viele Instanzengerichte machen sich inzwischen gar nicht mehr die Mühe zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung vorliegen, sondern berufen sich pauschal auf den BGH mit dem Hinweis, dieser habe die von ihm aufgezeigte ergänzende Vertragsauslegung für generell anwendbar erklärt. Tatsächlich ist die vom BGH behauptete Begrenzung auf eng umgrenzte Ausnahmefälle nicht nachvollziehbar, wenn man sich die von ihm definierten Ausnahmefälle näher betrachtet.

Gemäß seiner Ausführungen habe der BGH die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung in einer Reihe von Fällen verneint, die dadurch gekennzeichnet waren, dass das Energieversorgungsunternehmen es selbst in der Hand hatte, einer nach Widerspruch oder Vorbehaltszahlung des Kunden zukünftig drohenden unbefriedigenden Erlössituation durch Ausübung des ihm vertraglich eingeräumten Kündigungsrechts in zumutbarer Weise zu begegnen. Dieser verklausulierten Erklärung bedeutet, dass in den Fällen, in denen ein Verbraucher keine Preisbeanstandung abgegeben hat, die ergänzende Vertragsauslegung im Sinne des BGH zur Anwendung kommen kann. Damit hat der BGH die Ausnahme zur Regel gemacht. Denn nur ein sehr geringer Anteil der Verbraucher hat in der Vergangenheit gegen die Energiepreise Einspruch erhoben. Die Masse der Verbraucher hat dies nicht getan, denn die Preisbeanstandung war bis zum Urteil des BGH vom 14.03.2012 keine zu beachtende Obliegenheit.

Darüber hinaus nimmt der BGH bei langjährigen Gasversorgungsverträgen im Regelfall eine nicht mehr hinnehmbare Störung des Vertragsgefüges an, wenn der Verbraucher, ohne zuvor die Preise beanstandet zu haben, Rückzahlungsansprüche geltend macht. Dass diese Annahme unzutreffend ist, wurde oben dargelegt. Laut BGH sei aber auch für diese Fälle die ergänzende Vertragsauslegung anzuwenden. Da für die Verbraucher bis vor kurzem keine ausreichenden Wechselmöglichkeiten bestanden und sie daher an ihren Versorger gebunden waren, liegen in der Regel längerfristige Vertragsbeziehungen vor. Der BGH hat also dafür gesorgt, dass seine fragwürdige ergänzende Vertragsauslegung landauf landab regelmäßig und nicht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zur Anwendung kommt und auf diese Weise die Missachtung der europäischen Verbraucherschutznormen in deutschen Gerichtssälen zum Alltag zu werden droht.

Die EU-Richtlinie 93/13/EWG existiert seit 1993

Die Richtlinie 93/13/EWG des Rates über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen existiert seit nunmehr 20 Jahren. Sie datiert vom 5. April 1993 und wurde im Amtsblatt L 95 vom 21. April 1993, S. 29 veröffentlicht.

Gemäß Art. 10 Abs.1 der Richtlinie waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um dieser Richtlinie spätestens am 31. Dezember 1994 nachzukommen.

Diese Vorschriften gelten für alle Verträge, die nach dem 31. Dezember 1994 abgeschlossen werden.

Seit 20 Jahren kennen die Energieversorger die Verbraucherschutzbestimmungen der EU und wissen, oder müssten wissen, welches die Rechtsfolgen der Verwendung missbräuchlicher Klauseln sind. Es bestand deshalb nicht der geringste Anlass für den BGH, sich mit seinem fragwürdigen Konstrukt einer ergänzenden Vertragsauslegung schützend vor die Energieversorger zu stellen. Es hätte dem BGH besser angestanden, den Rechtsbestimmungen der EU-RL 93/13 unmissverständlich und nachdrücklich Geltung zu verschaffen.

Schlussbemerkung

Warum sich der VIII. Senat am höchsten deutschen Zivilgericht so vehement um den Schutz der Energieversorger und so wenig um den Schutz der Energieverbraucher bemüht, ist schwer zu begreifen.

Bleibt im Sinne der deutschen Energieverbraucher zu hoffen, dass sich bald ein Richter findet, der die vom BGH erfundene ergänzende Vertragsauslegung von sich aus verwirft oder sie wenigstens dem EuGH zur Überprüfung vorlegt.

Offline tangocharly

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Re: BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht
« Antwort #14 am: 02. März 2013, 15:43:31 »
@ courage

Dem Beitrag ist jedenfalls in dem Punkt beizupflichten, was mit der Richterlichen Rechtsfortbildung des VIII. Energiesenats geschehen muß, d.h. wohin der Senat sich diese packen darf, nämlich auf die Müllhalde.

Der EuGH wird sich vermutlich nicht lange überlegen müssen, weshalb er - ausgerechnet für die Versorgerindustrie - die bisherige Linie seiner explizit vom starken Verbraucherschutz geprägte  Rechtsprechung mit Urteil vom 14.06.2012 verlassen sollte. Dass der EuGH diese Linie weiter folgen wird (wovon ich stark ausgehe), kann man den Ausführungen ab RNr. 69 der Entscheidung vom 14.06.2012 - ohne den Entscheidungsgründen Zwang anzutun - ablesen. Liest man sodann noch die Ausführungen der Generalanwältin mit Votum vom 12.09.2012 hinzu, ist kaum damit zurechnen, dass der EuGH alle Löwengruben, Fallstricke, Versorgersünden absegnen und sich hinter den BGH stellen wird.

Und noch etwas hierzu:

Das Bundesverfassungsgericht hat dem BGH bereits am 25.01.2011 wegen seiner kontemplativen "Sich-Selbst-Überhebung" eine deutliche und laut vernehmbare Watschen versetzt.

Mit dieser seiner Entscheidung zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB (vgl. BVerfGE 1 BvR 918/10, Beschluss des Ersten Senats vom  25. Januar 2011) hat das Bundesverfassungsgericht klar herausgearbeitet, dass der BGH die Grenze richterlicher Rechtsfortbildung hierbei in unzulässiger und nicht hinnehmbarer Weise überschritten hatte. Hintergrund der Entscheidung des BGH zu § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB war der gewesen, dass der BGH einen "System-Wechsel" geschaffen hatte, welcher nicht zu seinen Kompetenzen zählt.

Richterliche Rechtsfortbildung durchbricht die Gewaltenteilung, kann diese aber auch verhindern.
Gerade wenn dabei ein Systemwandel exerziert wird (so wie dies dem XII. Familiensenat unterlaufen ist, für den ich sogar Verständnis habe), dann frägt sich der Bürger doch nicht ohne Grund, warum solch ein Wandel von Fünfen (den Bundesrichtern) besser, richtiger oder sozialverträglicher beurteilt werden kann, als auf  dem Weg in dem dafür vorgesehenen Verfahren.

Bislang jedenfalls ist es derzeit noch Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, dem Gesetzgeber die nötigen Schuhe anzuziehen, damit ein als sozialunverträglich erkannter Zustand beseitigt und sein Wandel zum Gehen gebracht werden kann.

Der VIII. Energiesenat haut den Verbrauchern das BGB mit vollständig neuen Regeln um die Ohren und fühlt sich dabei noch als Retter der Daseinsvorsorge.
<<Der Preis für die Freiheit ist die Verantwortung>>

 

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