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Autor Thema: Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro  (Gelesen 9818 mal)

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Offline hko

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Anfragen an die Fachleute:

Ich habe hier im Forum schon mehrmals gelesen, dass Versorger am AG wohl gerne Beträge unter 600 Euro einklagen, damit eine Berufung nicht möglich ist. Sie haben ja auch schon Erfolg damit gehabt, wenn Richter am AG sich über Gesetze und vor allem auch Urteile des BGH hinweggesetzt haben.

Nun zu meinen Fragen:

Wer legt den Streitwert fest? Der Kläger klagt aus taktischen Gründen nur einen geringen Teilbetrag ein, obwohl eigentlich ein wesentlich höherer Betrag strittig ist.

Hat der beklagte Verbraucher irgendeine Möglichkeit, in einem solchen Fall den Streitwert über den Grenzwert von 600 Euro zu bringen, damit dann am LG an der richtigen Kammer - hoffentlich - Recht gesprochen werden kann?

Gruß hko

Offline ESG-Rebell

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #1 am: 22. Oktober 2010, 18:42:14 »
Zitat
Original von hko
Wer legt den Streitwert fest?
Anfänglich der Kläger. In seinem Mahnbescheid bzw. seiner Klageschrift schreibt er hinein, wieviel er verlangt.

Die von Ihnen geschilderte Salami-Taktik ist wohl nicht unüblich.

Gegenwehr: Eine Widerklage auf Feststellung erheben, dass der ebenfalls offene Rest nicht zu zahlen sei. Dies dürfte m.E. dazu führen, dass das Gericht den Streitwert entsprechend anhebt.

Womöglich könnte ein AG dann zu dem Schluss kommen, dass es nicht (mehr) zuständig ist, wenn der Streitwert einen Betrag von 5000 Euro überschreitet.

Diese Aussage sollte aber noch ein Anwalt kommentieren.

Gruss,
ESG-Rebell.

Offline hko

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #2 am: 23. Oktober 2010, 10:54:07 »
Hallo ESG-Rebell,

vielen Dank für die schnelle Antwort.

Gruß hko

Offline RuRo

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #3 am: 23. Oktober 2010, 17:31:29 »
@hko

Sollte das Urteil auf einem beachtlichen Fehler des AG beruhen, kann es wie hier weitergehen:
Nach Amtsgerichtsentscheidung muss nicht zwingend Schluss sein

Sollten mehrere Verbraucher mit Einzelstreitwerten von unter 600 EUR in einer Streitgenossenschaft verklagt worden sein, ist nach Auffassung bayer. Gerichte ein Urteil berufungsfähig, wenn sich z.B. zwei Beklagte finden, die in Summe ihrer Einzelstreitwerte die Berufungsgrenze reißen (Streitwert A = 220 EUR, Streitwert B = 400 EUR - A+B sind gemeinsam berufungsfähig).
Leiderln hoits z\'sam, sonst gehts nimma recht lang

Offline Lothar Gutsche

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #4 am: 24. Oktober 2010, 13:09:37 »
@ RuRo

Der Weg über eine Verfassungsbeschwerde ist sehr aufwendig und wenig erfolgversprechend. Zunächst muss gegen das Urteil des Amtsgerichts \"innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs\" eine Gehörsrüge nach § 321 a ZPO erhoben werden.

Wenn die Gehörsrüge nicht zum Erfolg führt, ist der Weg zum Verfassungsgericht eröffnet. Dort aber beträgt die Erfolgsquote im statistischen Durchschnitt magere 1 - 2 %. Selbst die besten Anwälte in der Szene, z. B. Professor Dr. Rüdiger Zuck und Dr. Michael Kleine-Cosack, schaffen trotz sorgfältiger Vorselektion der Fälle vermutlich kaum mehr als 10 % Erfolgsquote.

Die Kosten der Gehörsrüge und der Verfassungsbeschwerde dürften den Streitwert von unter 600 Euro schnell übersteigen, besonders dann, wenn sich die Anwälte nach Aufwand bezahlen lassen. Bei den geringen Streitwerten müssen die Anwälte das leider tun, damit sie durch zu viele arbeitsintensive Klein-Mandate Ihre Kanzlei nicht rasch in den Ruin führen.

Eine Alternative zum Amtsgericht besteht darin, das ganze Verfahren zu einer Kartellsache zu machen und damit über § 87 GWB die Zuständigkeit eines speziellen Landgerichts mit Kartellkammer zu erzwingen. Dazu müsste der beklagte Endkunde von Anfang an im Prozess gute Gründe vortragen, die z. B. eine verbotene Absprache nach § 1 GWB, einen Preismissbrauch nach § 19 GWB oder einen Verstoß gegen § 29 GWB begründen. Das ist ziemlich aufwendig, weil die Beweis- und Darlegungslast anders als beim reinen Billigkeitsprozess nicht beim Versorgungsunternehmen liegt, sondern beim Kunden, der den den Kartellverstoß behauptet. Ein Beispiel ist in meiner Auseinandersetzung mit den Stadtwerken Würzburg unter http://www.ra-bohl.de/html/strompreise.html dokumentiert. Dort empfehle ich besonders die Schriftsätze vom 18.2.2009 und 21.1.2010.

Viele Grüße
Lothar Gutsche
Email: Lothar.Gutsche@arcor.de

Offline jofri46

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #5 am: 24. Oktober 2010, 19:35:24 »
Der einfachste Weg, die Berufungssumme zu erreichen,wäre doch, wie von ESG-Rebell erwähnt, im Wege der Widerklage eine sog. negative Feststellungsklage zu erheben, d. h. mit den Anträgen, dass
1. die (vorgerichtlich höhere Gesamt-)Forderung nicht besteht und
2.  der Versorger wegen Unwirksamkeit seiner Preisanpassungklausel zu Preiserhöhungen nicht berechtigt ist (Sondervertrag mit einer solchen Klausel vorausgesetzt).
Ein solches Feststellungsinteresse auf Kundenseite wird man im vorliegenden Fall nicht abstreiten können, die exakte Formulierung der Widerklageanträge jedoch dem Anwalt überlassen.

Offline RuRo

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #6 am: 26. Oktober 2010, 20:43:41 »
Zitat
Original von Lothar Gutsche
Wenn die Gehörsrüge nicht zum Erfolg führt, ist der Weg zum Verfassungsgericht eröffnet ...

Die Kosten der Gehörsrüge ... dürften den Streitwert von unter 600 Euro schnell übersteigen, besonders dann, wenn sich die Anwälte nach Aufwand bezahlen lassen.

Die Gehörsrüge existiert erst seit 2002. Da können die Fallzahlen nicht besonders hoch sein. Die Gehörsrüge gehört zum ersten Rechtszug und wirkt mit einer Gebühr von 50 EUR, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.
Bezüglich der Erfolgsaussichten wird es auf die Umstände des Einzelfalls ankommen. Schauen wir mal wie der Fall Erfurt ausgeht.
Leiderln hoits z\'sam, sonst gehts nimma recht lang

Offline Lothar Gutsche

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Berufung gegen Urteil AG nur möglich bei Streitwert über 600 Euro
« Antwort #7 am: 27. Oktober 2010, 08:07:00 »
@ RuRo

Der von Ihnen angegebene Link http://forum.energienetz.de/thread.php?threadid=14139 führt auf den Thread \"Verfassungsbeschwerde gegen Amtsgerichtsentscheidung\" und damit auf eine Verfassungsbeschwerde. Meine Aussage zur Erfolgsquote bezieht sich nicht auf die Gehörsrüge, sondern auf die Erfolgsaussichten von Verfassungsbeschwerden. Der in meinem Beitrag gesetzte Link zum statistischen Durchschnitt von entschiedenen Verfassungsbeschwerden leitet auf die Seite http://www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/gb2008/A-IV-2.html des Bundesverfassungsgerichts. Dort sind jährliche Fallzahlen von 1987 - 2008 aufgeführt mit Werten zwischen etwa 2.500 und 6.000 pro Jahr. In den letzten 10 Jahren waren Verfassungsbeschwerden minimal nur zu 1,56% und selbst im Maximum nur zu 2,77% erfolgreich. Wann genau eine Verfassungsbeschwerde als \"entschieden\" oder \"mitentschieden\" gezählt wurde und ob z. B. nicht zur Entscheidung angenommene Beschwerden miterfasst sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Möglicherweise sinkt die Quote der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden dann nochmals deutlich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Rechtsanwalt die Eingabe zum Fall Erfurt, auf den Sie verlinkt haben, für 50 Euro bearbeitet. Es kann sein, dass die Gehörsrüge am Gericht vielleicht nur 50 Euro kostet, aber einen ordentlichen Anwalt, der davon leben muss, können Sie nicht für 50 Euro eine Gehörsrüge und noch weniger eine Verfassungsbeschwerde anfertigen lassen. Falls Sie einen solchen juristischen Wohltäter kennen, können Sie mir gern dessen Kontaktdaten per Mail zukommen lassen.

Viele Grüße
Lothar Gutsche
Email: Lothar.Gutsche@arcor.de

 

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