Auch mit dieser Entscheidung ist doch wieder bemerkenswert, dass und wie sich ein Gericht mit der Frage der Privatautonomie auseinander setzt. Dies scheint doch wohl nur auf dem Gebiet der Sondervertragskunden zu gelingen.
Wie selbstverständlich geht die juristische Welt darüber hinweg, dass dem Tarifkunden mittels Rechtsverordnungen ein einseitiges Preisbestimmungsrecht aufoktroyiert wird und der VIII. Senat treibt diese Problematik mit seiner \"Sockelpreis-Theorie\" noch zyklopenhaft auf die Spitze. Nicht einer Silbe würdig ist dem VIII. Senat der Umstand, dass gerade letztere Theorie, die dem Schweigen rechtsgeschäftliche Bedeutung beimißt, einen Eingriff in die Privatautonomie darstellt. Und dies tangiert, wie das Bundesverfassungsgericht schon vor über 10 Jahren festgestellt hat, das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (
vgl. BVerfG, 19.10.1993, Az.: 1 BvR 567/89)
Ziff. II.2.a) der Gründe:
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Gestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem Willen ein Teil der allgemeinen Handlungsfreiheit (vgl. BVerfGE 8, 274 <328>; 72, 155 <170>). Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die Privatautonomie als \"Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben\" (Erichsen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, S. 1210 Rdnr. 58 ).
Die Privatautonomie ist notwendigerweise begrenzt und bedarf der rechtlichen Ausgestaltung. Privatrechtsordnungen bestehen deshalb aus einem differenzierten System aufeinander abgestimmter Regelungen und Gestaltungsmittel, die sich in die verfassungsmäßige Ordnung einfügen müssen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Privatautonomie zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers stünde und ihre grundrechtliche Gewährleistung infolgedessen leerliefe. Vielmehr ist der Gesetzgeber bei der gebotenen Ausgestaltung an die objektiv-rechtlichen Vorgaben der Grundrechte gebunden. Er muß der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben einen angemessenen Betätigungsraum eröffnen. Nach ihrem Regelungsgegenstand ist die Privatautonomie notwendigerweise auf staatliche Durchsetzung angewiesen. Ihre Gewährleistung denkt die justitielle Realisierung gleichsam mit und begründet daher die Pflicht des Gesetzgebers, rechtsgeschäftliche Gestaltungsmittel zur Verfügung zu stellen, die als rechtsverbindlich zu behandeln sind und auch im Streitfall durchsetzbare Rechtspositionen begründen.
b) Mit der Pflicht zur Ausgestaltung der Privatrechtsordnung stellt sich dem Gesetzgeber ein Problem praktischer Konkordanz. Am Zivilrechtsverkehr nehmen gleichrangige Grundrechtsträger teil, die unterschiedliche Interessen und vielfach gegenläufige Ziele verfolgen. Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht nur das Recht des Stärkeren gelten. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.
Im Vertragsrecht ergibt sich der sachgerechte Interessenausgleich aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner. Beide binden sich und nehmen damit zugleich ihre individuelle Handlungsfreiheit wahr. Hat einer der Vertragsteile ein so starkes Übergewicht, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt dies für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung (vgl. BVerfGE 81, 242 <255>). Allerdings kann die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsgleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden. Handelt es sich jedoch um eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen läßt, und sind die Folgen des Vertrages für den unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend, so muß die Zivilrechtsordnung darauf reagieren und Korrekturen ermöglichen. Das folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG).
c) Das geltende Vertragsrecht genügt diesen Anforderungen. Die Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuchs gingen zwar, auch wenn sie verschiedene Schutznormen für den im Rechtsverkehr Schwächeren geschaffen haben, von einem Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr aus, aber schon das Reichsgericht hat diese Betrachtungsweise aufgegeben und \"in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt\" (Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 24). Heute besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als
Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt und daß der Ausgleich gestörter Vertragsparität zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts gehört (vgl. die Übersicht bei Limbach, Das Rechtsverständnis in der Vertragslehre, JuS 1985, S. 10 ff. mit zahlr.Nachw.; zuletzt Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 216 ff.). Im Sinne dieser Aufgabe lassen sich große Teile des Bürgerlichen Gesetzbuchs deuten (Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982). In diesem Zusammenhang haben die Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuchs zentrale Bedeutung. Der Wortlaut des § 138 Abs. 2 BGB bringt das besonders deutlich zum Ausdruck. Darin werden typische Umstände bezeichnet, die zwangsläufig zur Verhandlungsunterlegenheit des einen Vertragsteils führen und zu denen auch dessen Unerfahrenheit gerechnet wird. Nutzt der überlegene Vertragsteil diese Schwäche aus, um seine Interessen in auffälliger Weise einseitig durchzusetzen, so führt das zur Nichtigkeit des Vertrages. § 138 Abs. 1 BGB knüpft ganz allgemein die Nichtigkeitsfolge an einen Verstoß gegen die guten Sitten. Differenziertere Rechtsfolgen ergeben sich aus § 242 BGB. Die Zivilrechtswissenschaft ist im Ergebnis darüber einig, daß der Grundsatz von Treu und Glauben eine immanente Grenze vertraglicher Gestaltungsmacht bezeichnet und die Befugnis zu einer richterlichen Inhaltskontrolle des Vertrages begründet (vgl. zuletzt Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 70 ff.; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 249 f.). Über die Voraussetzungen und die Intensität dieser Inhaltskontrolle besteht zwar im juristischen Schrifttum Streit. Für die verfassungsrechtliche Würdigung genügt jedoch die Feststellung, daß das geltende Recht jedenfalls Instrumente bereit hält, die es möglich machen, auf strukturelle Störungen der Vertragsparität angemessen zu reagieren.
Für die Zivilgerichte folgt daraus die Pflicht, bei der Auslegung und Anwendung der Generalklauseln darauf zu achten, daß Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Haben die Vertragspartner eine an sich zulässige Regelung vereinbart,so wird sich regelmäßig eine weitergehende Inhaltskontrolle erübrigen. Ist aber der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, so dürfen sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen: \"Vertrag ist Vertrag\". Sie müssen vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.
Wenn man nun noch hinzu nimmt, dass diese Beschränkung der Privatautonomie auf gesetzlichem Wege erfolgt, nämlich in Anwendung der Rechtsverordnungen (AVBGasV bzw. GasGVV), so muß man auch einen Blick auf
Art. 19 Abs. 1 GG werfen, der den sogenannten
Gesetzesvorbehalt regelt und das
Zitiergebot. Einen derartigen Gesetzesvorbehalt, geschweige denn, dass das Grundrecht zitiert wird, wodurch das krasse Beispiel der Rechtsprechung des VIII. Senats gedeckt werden könnte, nämlich die Statuierung einer \"Sockeltheorie\", d.h. den Rechtssatz dass Schweigen als Zustimmung gewertet werden darf, sucht man in den Materialien vergeblich. Nicht einmal der Teil -4- des EnWG, da wo die Grundversorgung geregelt wird, zitiert dort die Befugnis zur Einschränkung der Privatautonomie eines Bürgers.
Und warum dem Bürger, dem erstmals 2004 die Augen geöffnet wurden wie er von den EVU\'s über den Tisch gezogen wird, die \"Butter vom Brot\" genommen werden muß, weil der Sockelpreis nicht in die Billigkeitskontrolle einfließen dürfe, und Ersterer sich dabei dann nicht in einer \"gestörten Vertragsparität\" wiederfinden soll - das hat der VIII. Senat bisher nicht beantwortet - jedenfalls nicht vor dem Hintergrund der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts.