Anmerkungen zum Urteil des BGH vom 06.04.2016, III ZR 79/15
Basta-Urteil des 8. Zivilsenates überzeugt nicht
Von Wilhelm Zimmerlin, Bad Kreuznach. Der Autor war von 2004 bis 2009 Mitglied im Aufsichtsrat der Stadtwerke GmbH Bad Kreuznach. Er berät seitdem Endverbraucher bei der Abwehr unberechtigter Preisforderungen von Energieversorgern.
Die Furcht der Richter des 8. Zivilsenates am BGH davor, dass ein Verbraucher bis zum EuGH vordringt und die ergänzende Vertragsauslegung samt Fristenlösung dort auf den Prüfstand kommt, muss groß sein.
In seinem Leitsatzurteil vom 06.04.2016, III ZR 79/15 ist er nun dazu übergegangen, seine Rechtsprechung als alternativlos zum Schutz der Energieverbraucher und in völligem Einklang mit den EU-Verbraucherschutzvorschriften (acte clair) zu deklarieren. Die „vereinzelten“ kritischen Stimmen im Schrifttum übersähen lt. BGH (Rn 25, 26), dass sich die Rechtsprechung des EuGH zweifelsfrei im Sinne des BGH fortentwickelt habe.
Doch die Argumente des BGH überzeugen nicht, auch wenn er eine Reihe von Rechtsquellen anführt, die vermeintlich seine Sichtweise stützen sollen, bei näherem Hinsehen jedoch das Gegenteil belegen. Nachfolgend wird in Kurzform ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgezeigt, in welchen Punkten das Urteil von EU-Verbraucherschutzbestimmungen abweicht und deshalb kein acte clair gegeben ist:
a) Gesamtnichtigkeit des Vertrages und Rückabwicklung zu Lasten des Verbrauchers (Rn 24, 30-38)
Der BGH meint, als Alternative zu seiner ergänzenden Vertragsauslegung käme einzig die Gesamtnichtigkeit des Vertrages in Betracht. Denn die ersatzlose Streichung der missbräuchlichen Klausel wäre für den betroffenen Versorger nach mehr als einer zehnjährigen Vertragslaufzeit eine unzumutbare Härte.
Abgesehen davon, dass der Verwender missbräuchlicher Preisanpassungsklauseln keinen Vertrauensschutz in sein Preisgebaren beanspruchen kann, ist das Argument der unzumutbaren Härte ist schon deswegen unzutreffend, weil der Versorger bereits aufgrund der Verjährung von Forderungen vor einem übermäßigen wirtschaftlichen Risiko geschützt ist. Im Übrigen ist es gerade der Zweck des Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie 93/13 eine hohe Abschreckungswirkung zu entfalten, um Unternehmen davon abzuhalten, missbräuchliche Klauseln zu verwenden. Wenn ein Klauselverwender also durch Forderungen getroffen wird, dann verwirklicht sich darin eben das selbst verschuldete Missbrauchsrisiko. Ob überhaupt eine Härte vorliegt, ist bei Verwendern von missbräuchlichen Klauseln ohnehin zu bezweifeln. In aller Regel dürften solche Versorger über die Jahre satte Gewinne erzielt haben. Wie unten ausgeführt, steht es den nationalen Gerichten jedenfalls nicht zu, das Missbrauchsrisiko durch eine ergänzende Vertragsauslegung zu minimieren.
Der BGH verkennt zudem, dass die Nichtigkeit des Vertrages nur dann in Frage kommt, wenn dies zum Vorteil des Verbrauchers wäre. Hierzu verhält sich der EuGH in seinem Urteil vom 15.03.2012, C-453/10, Rn 35 unmissverständlich: „Folglich hindert die Richtlinie 93/13 einen Mitgliedstaat nicht daran, im Einklang mit dem Unionsrecht eine nationale Regelung vorzusehen, die es erlaubt, einen Vertrag, den ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat und der eine oder mehrere missbräuchliche Klauseln enthält, in seiner Gesamtheit für nichtig zu erklären, wenn sich erweist, dass dadurch ein besserer Schutz des Verbrauchers gewährleistet wird.“; siehe dazu auch EuGH vom 21.01.2015, C-482/13, Rn 28-33. Einen Vertrag für nichtig zu erklären, ist damit keine Option, die den nationalen Gerichten zur Verfügung steht, wenn dies zu Lasten des Verbrauchers ginge. Es ist nicht nachvollziehbar, wie der BGH zu einer gegenteiligen Auffassung gelangen konnte.
b) Anerkennung der Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung (Rn 23, 28, 31)
Der BGH meint, der EuGH habe eine Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung unter den beschriebenen Voraussetzungen, nämlich die angeblich ansonsten zwingende Nichtigkeit des Versorgungsvertrages, ausdrücklich anerkannt. Diese Behauptung des BGH ist zu bezweifeln; die vom BGH selbst aufgeführten Erkenntnisquellen sagen etwas anderes.
In allen Entscheidungen des EuGH wird nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Ziel der einschlägigen EU-Verbraucherschutzrichtlinien in der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus zu sehen ist. Auf keinen Fall ist es den nationalen Gerichten erlaubt, die hohe Abschreckungswirkung des Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie 93/13 abzumildern, EuGH vom 21.01.2015, C-482/13 Rn 31, vom 30.04.2014, C-26/13 Rn 79, vom 14.06.2012, C-618/10 Rn 69. Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 8 nur strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten.
Grundsätzlich steht es den nationalen Gerichten daher lediglich zu, eine missbräuchliche Klausel für den Verbraucher gem. Art. 6 Abs. 1 als unverbindlich zu erklären und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Zwar kann eine missbräuchliche Klausel im Ausnahmefall durch eine dispositive nationale Vorschrift ersetzt werden; dies muss aber voll und ganz im Einklang mit der durch Art. 6. Abs. 1 bezweckten hohen Abschreckungswirkung einhergehen.
Wenn also der BGH zwar die Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel entscheidet, zugleich aber seine ergänzende Vertragsauslegung als dispositive nationale Regelung rückwirkend anwenden will, so darf dies nicht zur Folge haben, dass der Verbraucher schlechter gestellt ist im Vergleich zur puren Unverbindlichkeit der missbräuchlichen Klausel. Diese mehrfach vom EuGH bestätigte Bedingung hat der BGH schlichtweg ignoriert, EuGH vom 21.01.2015, C-482/13 Rn 29, 33, vom 30.04.2014, C-26/13, Rn 83, 84, vom 14.06.2012, C-618/10 Rn 72.
Doch genau eine solche Schlechterstelllung des Verbrauchers bewirkt der BGH mit seinem rückwirkenden Konstrukt einer ergänzenden Vertragsauslegung samt Fristenlösung; u.a. weil der Verbraucher zurückliegende Preiserhöhungen, die er nicht rechtzeitig innerhalb einer Dreijahresfrist gerügt hat, gegen sich gelten lassen muss. Es ist offensichtlich, dass im Gegenzug der Verwender der missbräuchlichen Klausel besser gestellt wird. Ihm wachsen nämlich die erhöhten Erlöse zu, die ihm bei der Unverbindlichkeit der missbräuchlichen Klausel nicht zustünden. Dadurch sinkt das Missbrauchsrisiko für den Verwender von missbräuchlichen Klauseln und die hohe Abschreckungswirkung des Art. 6 Abs.1 der Klauselrichtlinie wird konterkariert.
Wenn der BGH meint, im Falle der Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel wieder eine Ausgewogenheit im Vertragsverhältnis herstellen zu müssen, kann er dies nicht rückwirkend anordnen sondern nur für die Zukunft einfordern. So könnte er beispielsweise dem Klauselverwender auferlegen, wirksame Klauseln in den Vertrag zu implementieren. Andernfalls sowie für die Vergangenheit müssen jedoch uneingeschränkt die abschreckenden Konsequenzen gem. Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie gelten.
c) Unterlassene Preissenkungen (Rn 40)
Nach wie vor schuldet der BGH eine Antwort darauf, wie sich ein Verbraucher gegen missbräuchlich unterlassene Preissenkungen seines Energieversorgers zur Wehr setzen kann. Aus Sicht des Verbrauchers ist die Preisgestaltung unter der Prämisse der vom BGH konstruierten ergänzenden Vertragsauslegung samt Fristenlösung völlig intransparent. Dies wird insbesondere an der Frage offenbar, woher ein Verbraucher wissen soll, ob und wie die Beschaffungskosten seines Versorgers gesunken sind und ab wann sein Versorger zu einer entsprechenden Senkung der Preise verpflichtet gewesen wäre. Diese Intransparenz ist eine Einladung an alle Versorger, ihre Gewinnmargen durch unterlassene oder verzögerte Preissenkungen zu steigern ohne dass betroffene Verbraucher gegen diese missbräuchliche Praxis vorgehen können. Das Konstrukt der ergänzenden Vertragsauslegung samt Fristenlösung des BGH erfüllt keine der in den EU-Richtlinien verankerten Verbraucherschutzkriterien.
Resümee
Auch wenn er es bestreitet, bestehen begründete Zweifel, dass die vom BGH propagierte ergänzende Vertragsauslegung samt Fristenlösung im Einklang mit EU-Recht steht. Das Urteil mutet wie ein Basta-Richterspruch an, verstärkt durch Basta-Leitsätze. Seine Weigerung, die Zweifelsfragen dem EuGH zur Klärung vorzulegen, mag auch mit den aus seiner Sicht schlechten Erfahrungen zusammenhängen. Schon zweimal musste der BGH innerhalb kurzer Zeit seine gefestigte Rechtsprechung revidieren, nachdem ihm der EuGH den richtigen Weg zum Schutz der Energieverbraucher gewiesen hat, EuGH vom 21.03.2013, C-92/11 und vom 23.10.2014, C-359/11, C-400/11. Eine dritte Niederlage kann der BGH wohl nur verhindern, wenn das juristische Match vor dem EuGH erst gar nicht stattfindet. Vor diesem Hintergrund dürfte das Basta-Urteil auch dazu dienen, dem einen oder anderen kritischen Richter in den Instanzen den Schneid abzukaufen. Für die deutschen Energieverbraucher bleibt zum einen die vage Hoffnung, dass es vielleicht doch irgendwo einen couragierten Richter gibt, der von sich aus den EuGH anruft. Zum zweiten ist zu hoffen, dass die inzwischen eingereichten Verfassungsbeschwerden vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen werden.