Forum des Bundes der Energieverbraucher

Energiepreis-Protest => Gerichtsurteile zum Energiepreis-Protest => Thema gestartet von: RR-E-ft am 07. August 2012, 10:52:33

Titel: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: RR-E-ft am 07. August 2012, 10:52:33
BGH, B. v. 17.07.12 VIII ZR 13/12 Aussetzung bei Tarifkunden (http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&Seite=1&nr=61189&pos=45&anz=635)


Zitat
Anders als das Berufungsgericht offenbar meint, kann die Frage der Europarechtskonformität der § 4 Abs. 1, 2 AVBGasV und § 5 Abs. 2 GasGVV nicht im Hinblick auf die vom Berufungsgericht erwogene ergänzende Vertragsauslegung offenbleiben.

Eine ergänzende Vertragsauslegung hat sich nicht nur an dem hypothetischen Parteiwillen, sondern auch an dem objektiven Maßstab von Treu und Glauben zu orientieren und muss zu einer die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigenden Regelung führen. Es geht daher darum zu ermitteln, was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie bedacht hätten, dass die Wirksamkeit der angewendeten Preisänderungsbestimmung jedenfalls unsicher war (vgl. Senatsurteil vom 14. März 2012 VIII ZR 113/11, NJW 2012, 1865 Rn. 24 mwN). Vor diesem Hintergrund hat der Senat bereits entschieden, dass es bei unwirksamen Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht in Betracht kommt, an die Stelle einer unwirksamen Preisänderungsbestimmung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung eine (wirksame) Bestimmung gleichen Inhalts zu setzen (vgl. Senatsurteil vom 14. März 2012 VIII ZR 113/11, aaO). Diese Erwägungen lassen sich jedenfalls im Grundsatz auch auf die Fälle übertragen, in denen wie hier die Europarechtskonformität von Verordnungsbestimmungen, nämlich der § 4 Abs. 1, 2 AVBGasV, § 5 Abs. 2 GasGVV, in Frage steht.

Aufgrund der Entscheidungserheblichkeit der unter Ziffer 1 genannten Frage kann der Senat in dieser Sache unter Beachtung seiner in Art. 267 Abs. 3 AEUV enthaltenen Vorlageverpflichtung keine abschließende Sachentscheidung treffen. Eine Vorlage auch dieses Verfahrens an den Gerichtshof würde jedoch dort nicht zu einer schnelleren Beantwortung der maßgeblichen Rechtsfrage führen (Senatsbeschluss vom 24. Januar 2012 VIII ZR 236/10, juris Rn. 7 mwN). Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass der Gerichtshof seinerseits das Verfahren C-359/11 bis nach der Urteilsverkündung in den Rechtssachen C-8/11 und C-92/11 ausgesetzt hat.
Titel: Re: BGH, B. v. 17.07.12 VIII ZR 13/12 Aussetzung bei Tarifkunden wegen EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 19. Juni 2015, 11:55:52
Nach Auskunft der Geschäftsstelle verhandelt der Senat am 8. Juli über zwei Sachen, in denen er das Verfahren wegen seiner Vorlagen an den EuGH wegen der Zweifel an der Europarechtskonformität des vom Senat aus den AVBV und StromGVV/GasGVV gefolgerten gesetzlichen Preisanpassungsrechts zunächst ausgesetzt hatte. Die Aussetzungsbeschlüsse vom 27.6.2012, VIII ZR 162/11, und vom 17.7.2012, VIII ZR 13/12. Es geht in der Verhandlung am 8. Juli um die grundsätzliche Frage, wie sich das EuGH-Urteil vom 23.10.2014, C-359/11 und C-400/11, auf die Wirksamkeit der auf dieses Recht gestützten Tarif- und Preiserhöhungen auswirkt.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 20. Juni 2015, 16:20:28
Läßt sich jedenfalls nach dem aktuellen Terminsplan des BGH auf dessen Homepage nicht  nachvollziehen

Terminhinweise (http://www.bundesgerichtshof.de/DE/Presse/Terminhinweise/terminhinweise_node.html)
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 08. Juli 2015, 16:05:06
Merkwürdig,

keine Pressesache. Verhandlung war aber wohl schon angesetzt. Ob verhandelt wurde, war bislang nicht zu erfahren (wahrscheinlich waren die Temperaturen in KA entsprechend).

Vielleicht finden sich an anderer Stelle noch weitere Informationen.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 08. Juli 2015, 17:59:31
Vielen Dank an  ESG-Rebell für den mir übersandten Terminsbericht:

In Sachen VIII ZR 162/11 ist noch kein Verhandlungstermin angesetzt worden.

Verhandelt wurden die Sachen
     VIII ZR 158/11   Pössl gegen die Stadtwerke Geldern                   und
     VIII ZR 13/12     Dr. Brüninghaus gegen die Stadtwerke Hamm

von 10:00 bis 10:50 vom 8. Senat: Dr. Milger (Vorsitz), Dr. Hessel, Dr. Fetzer, Dr. Bünger, Kosziol.

Vertreter des Verbrauchers als Revisionskläger ist RA Dr. Schott.
Vertreter des Energieversorgers als Revisionsbeklagte ist RAin Dr. Ackermann.

Beide Verfahren wurden (neben weiteren) zwecks Vorlage an den EuGH ausgesetzt.
Dieser hat am 23.10.2014 geurteilt (C359/11).
Urteil: http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&num=C-359/11

----- 10:01 ---------------------------------------------------------------------------
Dr. Milger:
Sie schildert den Sachverhalt und den Grund für die Vorlage an das EuGH: Die Revisionskläger wurden auf Zahlung verklagt bzw. hatten unter Vorbehalt gezahlt und diese Zahlung zurück gefordert. Beide haben in der letzten Instanz verloren und sind dagegen in Revision gegangen.

Der Senat hatte Zweifel daran, ob die nationalen Vorschriften für Tarifkunden mit EU-Recht vereinbar sind und diese Frage daher dem EuGH vorgelegt. Dieser hat die Frage nun im Wesentlichen verneint. Damit ist dem Senat die Fortsetzung der bisherigen Auslegung der betreffenden Rechtsvorschriften verschlossen.

Trotz der niedrigen Streitwerte in den beiden Verfahren (800€ bzw. 1000€) hat der Senat aufgrund der Vielzahl vergleichbarer Vertragsverhältnisse und der Signalwirkung der Verfahren umfangreich vorberaten und er wird auch noch umfangreich nachberaten. Der Senat tendiert dazu, den Berufungsgerichten - mit Einschränkungen - zu folgen.

Es stellen sich vier Fragen:
  • Ist eine europarechtskonforme Auslegung der nationalen Regelungen möglich?
  • Ist eine unmittelbare Anwendung der Transparenzanforderungen des EU-Rechts möglich?
  • Ist eine ergänzende Vertragsauslegung möglich?
  • Sind die beiden konkreten Fälle durch Berücksichtigung der Einzelsituationen zu entscheiden?
zu 1) Dies wird schwierig und kaum möglich sein, da die Grenzen der Auslegungsmöglichkeiten durch das Gericht dabei überschritten würden.

zu 2) Dies kommt wohl auch nicht in Betracht, weil die Kläger Privatpersonen und keine Normenkontrollgremien wie bspw. Verbraucherverbände sind.

zu 3) Diese ist hier möglich und auch geboten. Bei den Verträgen handelt es sich um langfristige Versorgungsverträge, die ohne Preisanpassungen nicht aufrechterhalten werden können. Die Versorger unterliegen zudem einem Kontrahierungszwang. Bei der Auslegung ist davon auszugehen, dass die Parteien entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Senats eine Widerrufsfrist von drei Jahren vereinbart hätten, nach deren Ablauf nicht widersprochene Preise als vereinbart gelten.

zu 4) Die Berufungsgerichte haben jeweils festgestellt, dass nur gestiegene Bezugskosten weitergegeben wurden. Eine taggenaue Erfassung der Kosten ist dabei nicht erforderlich und zudem praxisfern. Der Senat bezweifelt, dass Verfahrensfehler bei den Vorinstanzen vorliegen.

----- 10:10 ---------------------------------------------------------------------------
Dr. Schott:
Der EuGH sagte, der Art. 3, Abs. 3 stehe der Anwendung der genannten nationalen Vorschrift entgegen. Dieses Urteil bindet die nationalen Gerichte. Das folgt aus dem Vorrang des EU-Rechts vor dem Nationalrecht. Dies gilt nicht nur bei fehlendem oder widersprechendem Recht, sondern auch bei mangelhaft umgesetztem EU-Recht.

Kann denn die nationale Vorschrift so angewendet werden, dass dies europafreundlich ist? Es kommt doch nicht nur auf eine richtlinienkonforme Auslegung sondern auch auf eine Rechtsfortbildung an. Die Anforderungen des EuGH an Preisänderungsbestimmungen sind in nationale Verordnungen hineinzulesen und diese entsprechend anzuwenden. Deshalb hat der deutsche Gesetzgeber dies doch in den neuen Verordnungen (StromGVV, GasGVV) so gemacht. Natürlich hätte er das schon früher tun sollen. Daher sollte der Senat nun bei der Beurteilung von Fällen, die noch in die Gültigkeit der alten Verordnung (AVBEltV, AVBGasV) fallen, im Sinne der Richtlinie entscheiden.

Hätte der Gesetzgeber die Verordnungen absichtlich nicht oder verspätet umgesetzt und dadurch EU-Recht nicht beachtet, dann wäre dies eine EU-Vertragsverletzung. Daher sind nationale Vorschriften, solange sie nicht EU-konform sind, EU-konform auszulegen. Und eine solche EU-konforme Auslegung muss möglich sein (Frage 1 betreffend)!

Zu Frage 2) Der Senat sagt, dies beträfe nur das Verhältnis des Staates zu einzelnen Personen. Der Begriff des Staates ist hier aber weiter zu fassen im Sinne der sog. "öffentlichen Hand", zu der letztlich auch privatwirtschaftlich betriebene ausgegründete Betriebe (also Stadtwerke) zählen. Aber auch diese Frage des Staatsbegriffs ist nicht durch den Senat sondern widerum durch den EuGH zu entscheiden und diesem daher vorzulegen.

Anm.: Den Begriff der "Drittwirkung" habe ich zum ersten Mal gehört. Mangels Definition konnte ich die Diskussion darum nicht ganz erfassen.

Zu Frage 3) Die ergänzende Vertragsauslegung ist zwar formal möglich, aber nicht zur Umgehung des EuGH-Urteils. Denn dann wäre doch die Vorlage an diesen unnötig gewesen. Der EuGH hat die Vorlage nur deshalb zur Entscheidung angenommen weil der BGH in seinem Vorlagenbeschluss eine ergänzende Vertragsauslegung verneint hatte und der EuGH von einer Drittwirkung ausgehen konnte.

Auch die Fragen der Versorgungssicherheit und des Kontrahierungszwangs der Grundversorger hat der EuGH berücksichtigt.

Sollte dennoch eine ergänzende Vertragsauslegung erfolgen, warum dann nicht auf Basis der EU-Richtlinie, die doch auch in Deutschland gilt?

----- 10:10 ---------------------------------------------------------------------------
Dr. Ackermann:
Der EuGH beachtet üblicherweise nicht die Auswirkungen seiner Entscheidungen.
Für eine erneute Vorlage weiterer Fragen an den EuGH gibt es keinen Anlass.

Von einer vorsätzlichen Vertragsverletzung Deutschlands durch eine verspätete Umsetzung von EU-Recht ist nicht auszugehen. Bis 2011 konnten Energieversorger nicht davon ausgehen, dass die AVB/GVV nicht EU-konform sind. Noch im Vorlagenbeschluss von 2011 ging der Senat davon aus, dass die AVB der EU-Richtlinie gerecht werden, weil sich der Kunde vom Vertrag lösen kann.

Der EuGH hat den Zweck der Richtlinie ausgeführt: Sie soll Verbraucherschutz, Versorgungssicherheit und die wirtschaftlichen Belange der Versorger in Einklang bringen. (Sie zitiert mehrere Passagen des EuGH-Urteils). Nach diesen Vorüberlegungen sind die Schlussfolgerungen des EuGH in Rn 53 nicht nachvollziehbar.

Der EuGH hat zudem nicht die Nichtigkeit der nationalen Verordnungen angeordnet sondern die Entscheidung über die Konsequenzen den nationalen Gerichten überlassen.

Es gibt unzählige Verträge. Ein verbraucherfreundliches Urteil zöge hohe Rückforderungen mit unabsehbaren Folgen nach sich. Die Energieversorger haben hierfür keine Rückstellungen gebildet. Eine Umlage auf die aktuellen Preise wäre auch nicht möglich, da es sich nicht um Bezugskosten handeln würde.

Wenn ein Grundversorger selbst nicht kündigen darf, keine Preisanpassungen vornehmen darf und noch der Unbilligkeitsprüfung unterliegt, wäre ein solcher Vertrag unhaltbar. Eine Versorgung muss auch effizient sein. Wie aber soll dies gehen, wenn keine Weitergabe von Kostenerhöhungen möglich ist.

Weitere Aspekte stellen der Vertrauensschutz und Rechtssicherheit dar. Die Versorger konnten frühestens 2011 - und zudem nur eingeschränkt - davon ausgehen, dass die nationale Regelung nicht EU-konform sein könnte. Die Kläger haben zudem nicht die mangelnde Transparenz gerügt sondern nur die Unwirksamkeit der Preiserhöhung und sie haben zudem nicht von ihrer Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht.

Eine ergänzende Vertragsauslegung auf Basis der EU-Richtlinie ist nicht möglich.

In der nachfolgenden Diskussion mit Frau Dr. Ackermann stellt der Senat klar: Beabsichtigt ist eine Kombination aus der bisherigen Rechtsprechung zur Weitergabe von Kostensteigerungen und der EU-Richtlinie. Ohne Widerspruch des Kunden innerhalb von drei Jahren gilt der Preis als vereinbart und es kommt nicht mehr darauf an, ob nur Bezugskosten weitergegeben wurden. In den hier vorliegenden Fällen spielt die Drei-Jahres-Frist aber keine Rolle.

Dr. Ackermann zitiert aus dem Urteil des OLG Düsseldorf (zu ZR 13/12) zu Weitergabe von Bezugskostensteigerungen. Zur Billigkeitskontrolle hat der Senat ja bereits festgestellt, dass die tatrichterliche Würdigung nicht zu beanstanden ist.

----- 10:43 ---------------------------------------------------------------------------
Dr. Schott:
Die Bewertung des Vorgehens des EuGH ist müßig. Der Senat ist trotzdem an dessen Urteil gebunden. Die oben genannten Argumente wurden doch auch dem EuGH vorgetragen, und das sogar von der Bundesregierung. Die angeblichen Folgen des Urteils wurden auf Nachfrage weder von den Versorgern noch von der Bundesregierung substantiell vorgetragen.

Zur ergänzenden Vertragsauslegung: Der EuGH sagt doch gar nicht, dass kein Preisänderungsrecht bestünde. Das Problem ist die formale Voraussetzung aus dem Verbraucherschutz, wann eine Preiserhöhung angestrebt werden kann. Eine ergänzende Vertragsauslegung kann diese Anforderung nicht umgehen.

Der Senat widerspricht: Auch Tarifkunden haben nach AVBGasV §1 einen Vertrag. Daher ist eine ergänzende Vertragsauslegung grundsätzlich möglich.

Dr. Schott: Aber man kann einem Kunden dabei doch nicht unterstellen, dass er ein ihm aus einer Richtlinie erwachsenes Recht freiwillig aufgegeben hätte.

----- 10:50 ---------------------------------------------------------------------------
Dr. Milger:
Die Verkündung des Urteils erfolgt voraussichtlich nach der Sommerpause.




Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 08. Juli 2015, 18:22:28
Rückblende:

Für eine richtlinienkonforme Anwendung der nationalen Vorschriften hatte sich dabei von den Obergerichten wohl allein das OLG Düsseldorf mit Urt. v. 13.06.12 entschieden:

http://forum.energienetz.de/index.php/topic,17273.msg93960.html#msg93960

Jene Entscheidung ging dann aber auch in die Revision zum BGH und wurde dort bisher ausgesetzt.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 09. Juli 2015, 19:20:21
Phänomenal dieser 8. ZS; trotziges Aufstampfen und es bleibt alles, wie es ist. Das Urteil des EuGH - ein Pfeifen im Walde.

Trotzdem; Recht hat er der Rechtsvertreter des Bekl.(Rev.Kläger) (Dr. Schott):
Zitat
Dr. Schott: Aber man kann einem Kunden dabei doch nicht unterstellen, dass er ein ihm aus einer Richtlinie erwachsenes Recht freiwillig aufgegeben hätte.
.

Das wußte schon der 7.ZS.  in seinem Urteil zu § 139 Abs. 1 ZPO vom 22.10.1992 (VII ZB 6/92 = NJW 1993, 667)
Zitat
Da niemand sich selbst benachteiligen will, spricht eine Vermutung für das Nichterkennen eines nicht ausdrücklich angesprochenen Gesichtspunktes
was im Ergebnis dazu führt, dass der Richter keinen rechtlichen Gesichtspunkt seiner Entscheidung zu Grunde legen darf, wenn die Prozesspartei einen solchen Gesichtspunkt erkennbar übersehen hat. Andernfalls verletzt solche Praxis den verfassungsrechtlich garantierten Schutz auf rechtliches Gehör (Art. 103  Abs. 1 GG).
Der 8.ZS. will nicht nur dem Umstand Bedeutung beimessen, dass in der Vorzeit kein Widerspruch erhoben wurde (dessen Tragweite vormals erkennbar niemand bemessen konnte), sondern will auch noch dem Verbraucher -zugleich- ein Anerkenntnis von Preisen (Sockel) unterstellen, die auch (bis 2004) kein Verbraucher nachvollziehen konnte.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 10. Juli 2015, 11:35:40
Der Senat hat das Problem, weil er auch bei der früheren Tarifkundenbelieferung und  der Grund- und Ersatzversorgung von einer vertraglichen Preisvereinbarung ausgeht und in §§ 4 AVBV/ 5 GVV ein Preisänderungsrecht des Versorgers  sehen möchte, welches sich laut EuGH inhaltlich mit den EU- Richtlinien nicht vereinbaren lässt.

Gewichtige Argumente sprechen jedoch  dafür, dass in diesem Bereich mit Vertragsabschluss kein Preis vereinbart wird, sondern vielmehr  von Anfang an eine gesetzlich angeordnete und vertraglich implementierte Preisbestimmungspflicht des Versorgers besteht, welche zugleich die vertragliche Preishauptabrede ausmacht, individuelle Preisvereinbarungen gesetzlich unzulässig sind (vgl. Fricke ZNER 2011, 130 ff.; Markert, Festschrift für Franz-Jürgen Säcker zum 70. Geburtstag, S. 845 ff. "Sonderzivilrecht für Energieversorger contra legem? - Kritische Anmerkungen zur neueren Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats bei der Anwendung der §§ 307, 315 BGB auf Strom- und Gaspreise").

Schließlich spricht zwar auch der Senat von einer Pflicht zur Preisanpassung zugunsten der Kunden, die aus der gesetzlichen Bindung des allgemeinen Tarifs an den Maßstab der Billigkeit folgen soll (vgl. BGH, B. v. 18.05.11 Az. VIII ZR 71/10, juris Rn. 11).
 
Aus §§ 4 AVBV/ 5 GVV ergibt sich bei Lichte betrachtet jedenfalls weder eine Pflicht zur Preisanpassung zugunsten der Kunden noch eine gesetzliche Bindung des allgemeinen Tarifs an den Maßstab der Billigkeit. Letztere ist deshalb im EnWG selbst zu suchen und nach meinem Dafürhalten dort auch zu finden. Sie folgt m.E. aus einer im EnWG geregelten Preisbestimmungspflicht des Versorgers, die in jeden ("gesetzlichen") Versorgungsvertrag implementiert wird  (vgl. Fricke, aaO).

Soweit der Senat nun betont, dass man es auch in der Grundversorgung mit einem Vertrag zu tun hat, so wird wohl verkannt, dass nicht jeder Vertragsschluss mit einer Preisvereinbarung verbunden sein muss, nämlich dann, wenn einen der Vertragsschließenden gesetzlich oder vertraglich implementiert eine Preisbestimmungspflicht trifft, § 315 Abs. 1 BGB.

Legt man die Auffassung des Senats zu Grunde, ergibt sich Folgendes:

Ein Grundversorgungsvertrag enthält ohne Preisbestimmungspflicht des Versorgers und ohne daraus folgendes Preisänderungsrecht des Versorgers eine planwidrige Regelungslücke, die sich in Anbetracht des gesetzlichen Kontrahierungszwangs des Versorgers und des fehlenden Rechts zur ordentlichen Kündigung des Versorgers(§ 20 Abs. 1 Satz 3 GVV) bei veränderlichen Kosten für den Versorger als unzumutbar erweist, womit die Voraussetzungen einer ergänzenden Vertragsauslegung vorliegen können (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.06.12).

Dazu muss jedoch deutlich angemerkt werden:

Eine solche Lücke kann nicht durch die Einräumung eines einseitigen  Preisänderungsrechts zugunsten des Versorgers geschlossen werden, wenn es dabei an einer Preisbestimmungspflicht des Versorgers fehlen würde. Denn eine solche Regelung läge nicht im Interessse beider Parteien, sondern würde den Versorger einseitig bevorteilen. Schließen lässt sich eine solche Lücke folglich nur über eine Preisbestimmungspflicht des Versorgers, aus welcher ein Preisänderungsrecht bzw. Recht zur Preisneubestimmung folgt.

Für eineseitige Preisneubestimmungen zu Lasten der Kunden (Preiserhöhungen) muss eine solche ergänzende Vertragsauslegung sicher im Lichte der EU- Richtlinien erfolgen, so dass der Versorger jedenfalls rechtzeitig vor der Preisänderung brieflich über diese wie auch ein bestehendes Sonderkündigungsrecht informieren musste, damit diese wirksam werden konnte (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.06.12).   

Gemessen daran werden nicht wenige  Preisänderungen im Bereich der Grundversorgung verbleiben, die sich als unwirksam erweisen.

Der Senat wird in diesem Fall erörtern, ob es einer weiteren ergänzenden Vertragsauslegung bedarf, welche etwa dazu führen könnte, dass sich betroffene Kunden nach einem gewissen Zeitablauf bei unterlassenem Widerspruch gegen die Preisänderung nicht mehr auf deren Unwirksamkeit berufen können.

Hatte der Versorger jedoch den Kunden rechtzeitig vor der einseitigen Preiserhöhung brieflich über diese und das bestehende Sonderkündigungsrecht informiert, könnte es nach einem (rechtzeitigen) Widerspruch des Kunden auf eine Billigkeitskontrolle der Preisneubestimmung bzw. Preisänderung gem. § 315 Abs. 3 BGB  ankommen.

     

Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 10. Juli 2015, 16:36:19
Unterstellen wir, dass es eine gesetzliche Preisbestimmungspflicht und ein (dazu korrespondierendes) Preisbestimmungsrecht gibt, weil sich auf dem Markt der Grundversorger keine von Angebot und Nachfrage bestimmbare Preise bilden und weil dem Grundversorger eine individuelle Preisabrede nicht gestattet ist, dann kann sich diese Pflicht nicht (jedenfalls nicht allein) aus dem EnWG ableiten.

Nirgendwo im EnWG (abgesehen von §§ 1 u. 2) finden sich gesetzliche Bestimmungen, welche den Rahmen dieses Rechts und dieser Pflicht ausfüllen. Dies ist Gesetzes technisch auch an dieser Stelle, wegen der generalisierenden, typisierenden Apparatur hierbei, nicht zu erwarten.

Regelmäßig ist dies Aufgabe des Verordnungsgebers, welcher seine Handlungslegitimation aus dem EnWG herleitet, und der sich selbiger Apparatur in den Grenzen bedienen darf, welche ihm der Gesetzgeber eingeräumt hat. Eine solche Legitimation findet sich in den Verordnungsermächtigungen gem. §§ 39 ff. EnWG.

Bei Existenz eines gesetzlichen Preisbestimmungsrechts kann es somit wiederum nur dem Verordnungsgeber obliegen, diese Einzelheiten, d.h. die Konditionen welche zu einer Änderung der bereits bestimmten Preise rechtfertigen könnten, detailliert festzulegen.

Dies hätte im Zusammenhang mit den Bestimmungen gem. § 4 Abs. 2 AVBGasV / § 5 Abs. 2 GasGVV vorgenommen werden können. Dies war allerdings nicht erfolgt. Und das Instrumentarium in den genannten Bestimmungen, welches der EuGH jetzt auseinander genommen hat, war offensichtlich nicht geeignet dazu, eine irgend geartete Transparenz zu geben, geschweige denn dem nach den konstitutionellen Regeln des Vertrages geschaffenen „hohen Maßstab des Verbraucherschutzes“ gerecht zu werden.

Dem Richter fehlt nach den Prinzipien der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) die Legitimation dazu, anstelle des Gesetzgebers im Wege einer „ergänzenden Vertragsauslegung“ für diese - in den gesetzlichen Preisbildungsbestimmungen fehlenden - (Preisbestimmungs-)Kriterien zu sorgen. Es kommt ja offensichtlich nicht darauf an, was die Parteien bei einer systemwidrigen Regelunglücke redlicherweise anstelle einer unwirksamen Regelung vereinbart haben würden. Insoweit müsste der BGH auch die Existenz eines individuellen Rechts zur Preisabrede bestätigen, was  das gesetzliche Preisbestimmungsrecht negieren würde und dann einen Systembruch darstellte. Diese Systemfrage ist jedenfalls - bleibt es beim gesetzlichen Preisbestimmungsrecht - eine solche, welche in die Zuständigkeit des Gesetzgebers fällt (und da wird sich der 8.ZS. kaum anmaßen wollen zu wissen, was der Gesetzgeber redlicherweise anstelle der unwirksamen Regelung zu konditionieren gewollt hätte).

Fehlen die gesetzlichen Preisbestimmungskriterien, dann kann auch der 8.ZS. keine „anerkannten Sockelpreise“ zementieren wollen, weil dies wiederum System widrig ist zu dem System des gesetzlichen Preisbestimmungsrechts. Auch die „Verwirkungskomponente“ des BGH, die ja seit der Schuldrechtsmodernisierungsreform 2002, erheblich abgeschwächt wurde, passt nicht ins Bild.

Viel eher erschiene eine Analogie zu den Verjährungsbestimmungen des öffentlich-rechtlichen Sektors passend, denn auch die von dem BGH bemühte Dreijahresfrist des § 18 GVV regelt ja nicht die Thematik von Überzahlungen des Verbrauchers weil eine wirksame Preisanpassungsregelung fehlt auf der Basis von Leistungen ohne Rechtsgrund bzw. ungerechtfertigter Bereicherung. In diesen öffentlich-rechtlichen Bestimmungen findet sich auch kein Ansatz für Unterstellungen („gilt als vereinbart“).

Die kurzen Verjährungsbestimmungen (z.B. bei öffentlichen Leistungen) nötigen sodann auch nicht dazu mit dem Instrumentarium der Verwirkung zu arbeiten, weil angesichts der kurzen Fristen schon alsbald für Rechtsklarheit gesorgt ist. Hierdurch werden, für den recht kurzen Zeitraum der Schwebe, die Interessen der Versorger auch nur rein peripher tangiert werden können.

Darüber muss aber - wie schon ausgeführt - nicht der Richter sinnieren, sondern der Verordnungsgeber, welcher für sich das Recht heraus genommen hat, die „Allgemeinen Versorgungsbedingungen“ auf gesetzlicher Basis zu regeln.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 10. Juli 2015, 19:50:39
@tangocharly

Die Preisbestimmungspflicht des Grundversorgers ergibt sich m.E. unmittelbar aus § 36 Abs. 1 EnWG iVm. §§ 2 Abs. 1, 1 Abs.1 EnWG:

Der Grundversorger ist gesetzlich verpflichtet, Allgemeine Preise öffentlich bekannt zu geben und im Internet zu veröffentlichen. Hierzu muss der Grundversorger die Allgemeinen Preise denknotwendig zuvor jeweils  bestimmen. (Das macht nämlich sonst niemand anderes für ihn, so dass er eigenverantwortlich handeln muss).

Bei diesen Preisbestimmungen ist der Grundversorger nicht frei, sondern auch für diese Preisbestimmungspflicht aus § 36 Abs. 1 EnWG gilt gem. § 2 Abs. 1 die Verpflichtung zu einer möglichst preisgünstigen Versorgung im Sinne des § 1 Abs. 1 EnWG.

Preisbestimmungen aufgrund einer solchen gesetzlichen Preisbestimmungspflicht unterliegen der Billigkeitskontrolle gem. § 315 Abs. 3 BGB.

So und nur so ist der Allgemeine Tarif an den Maßstab der Billigkeit gebunden und besteht auch eine Verpflichtung zur Preisanpassung zugunsten der Kunden (wenn der bisher bestimmte Preis aufgrund nachträglicher Kostensenkungen unbillig geworden ist).

Diese Preisbestimmungspflicht ist in die Versorgungsverhältnisse vertraglich implementiert.

Gem. § 6 Abs. 2 GVV ist der Grundversorger verpflichtet, den Bedarf des Kunden im Rahmen des § 36 des Energiewirtschaftsgesetzes zu befriedigen, also zu den jeweiligen (vom Grundversorger erst bestimmten und sodann öffentlich bekannt gemachten und im Internet veröffentlichten) Allgemeinen Preisen.

Selbstverständlich gibt es bei solchen Preisbestimmungen aufgrund einer gesetzlichen Preisbestimmungspflicht keinerlei vereinbarte Preissockel (vgl. BGH, Urt.v. 18.10.05 KZR 36/04, juris Rn. 10 - Lesen!!!).


Das Recht des Grundverorgers, künftige Allgemeine Preise ohne Mitwirkung des Kunden festzusetzen,
 kann nicht anders behandelt werden. Aber auch das zum Zeitpunkt des Vertragschlusses von dem Grundversorger  geforderte Entgelt ist regelmäßig ein nach dem Willen der Vertragsparteien einseitig bestimmtes Entgelt, das der Grundversorger zu bestimmten Zeitpunkten ermittelt und das - schon zur Vermeidung einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung - für eine bestimmte Zeitdauer sämtlichen Vertragsbeziehungen mit gleichen Nutzungsprofilen unabhängig davon zugrunde liegen soll, wann der Vertrag geschlossen wird. Auch dann, wenn das Entgelt betragsmäßig bereits feststellbar ist, wird nicht dieser Betrag als Preis vereinbart. Der Betrag gibt vielmehr lediglich das für einen bestimmten Zeitpunkt ermittelte Ergebnis des gleichen Preisbestimmungsverfahrens wieder, das dem Grundversorger auch für die Zukunft zustehen soll, an dem der Kunde nicht teilnimmt, dessen konkrete preisbestimmende Faktoren ihm nicht bekannt sind und dessen Ergebnis er weder nachvollziehen noch beeinflussen kann. Es ist daher nicht weniger einseitig bestimmt als die künftige Höhe des Entgelts. Es wäre eine künstliche Aufspaltung der äußerlich und inhaltlich einheitlichen Preisvereinbarung und führte zu Zufallsergebnissen, wollte man einen vereinbarten Anfangspreis von (vom Zeitpunkt der ersten ausdrücklich oder stillschweigend vorgesehenen Neuberechnung an maßgeblichen) einseitig bestimmten Folgepreisen unterscheiden.

 

§§ 4 AVBV/ 5 GVV regeln lediglich die Ausübung dieser gesetzlichen  Preisbestimmungspflicht aus dem EnWG im Rahmen laufender Vertragsverhältnisse (Preisänderungen), so dass es für die Wirksamkeit  anders als gem. § 315 Abs. 2 BGB zum Beispiel nicht auf den Zugang von Willenserklärungen gem. § 130 BGB beim Kunden ankommen sollte.

Aber auch wenn man die gesetzliche Preisbestimmungspflicht unmittelbar aus dem EnWG nimmt, so wird wegen der EU- Richtlinien für Preiserhöhungen in laufenden Vertragsverhältnissen eine rechtzeitige vorherige briefliche Information des Kunden über die Preisänderung, das bestehende Sonderkündigungsrecht [und ggf. Möglichkeit der gerichtlichen Billigkeitskontrolle] für die Wirksamkeit der Preiserhöhung erforderlich sein, die zudem einer Billigkeitskontrolle unterliegt.
   
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 13. Juli 2015, 13:07:44
@RR-E-ft

Dass es dem 8.ZS. nicht genehm ist, die Entscheidungen seiner Kollegen zur Kenntnis zu nehmen (BGH , 18.10.05 KZR 36/04) hat sich ja schon herum gesprochen. Er, der 8.ZS., vertritt halt ein anderes Modell, also das vertragsrechtliche (sil. Preishauptabrede).

Aber selbst dann, wenn man im Modell (der Daseinsvorsorge) es so stehen läßt, dass die Bestimmungen gem. § 315 Abs. 3 S. 1 BGB die Preisbestimmung des Versorgers begrenzen, so hat dies (gerade bei der Daseinsvorsorge) seine Haken.

Einerseits nehmen weder die Bestimmungen gem. §§ 1 u. 2 EnWG auf den § 315 BGB Bezug und andererseits will ja der EuGH den "hohen Maßstab des  Verbraucherschutzes" gewahrt sehen.

Die Bestimmungen des § 315 Abs. 3 S. 1 BGB sprechen vom billigen Ermessen. Die Bestimmungen gem. §§ 1.u.2 EnWG wollen eine "möglichst preisgünstige Versorgung" sichergestellt sehen. Wie das nach billigem Ermessen vonstatten gehen soll, stellt sich als Frage dar.

Der "hohe Maßstab des Verbraucherschutzes" ist auch nicht mit dem § 315 BGB gewahrt. Denn diese Bestimmung befindet sich nicht im Abschnitt 3, Titel 1, Untertitel 2 (d.h. §§ 312 - 312 k BGB = Verbraucherverträge), sondern in einem eigenen Untertitel (Nr.3).

Erst wenn sich im Rahmen der Privatautonomie zwei Vertragspartner auf Augenhöhe begegnen, dann liegt die Dispositionsmacht in deren Händen, sich auf dieses Modell der einseitigen Bestimmung zu einigen.

Dass dies in der Daseinsvorsorge nicht der Fall ist, wo es von vorn herein um ein gesetzliches Preisbestimmungsrecht gehen soll, und der Gesetzgeber diesem Bestimmungsrecht keine Kontur gegeben hat,  führt m.E. nicht aus dem Dilemma heraus, in welchem sich der 8.ZS. mit seiner "Sockel-Preis-Theorie" befindet.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 13. Juli 2015, 14:55:25
§ 36 Abs. 1 EnWG enthält m.E. wie aufgezeigt eine gesetzliche Preisbestimmungspflicht des Versorgers.
Auf diese findet § 2 Abs. 1 EnWG Anwendung, der zu einer Versorgung im Sinne des § 1 Abs. 1 EnWG verpflichtet, also zu einer möglichst preisgünstigen Versorgung.

Schon als das Energiewirtschaftsgesetz anders als heute keine Verpflichtung wie in § 2 EnWG enthielt, sondern in § 1 EnWG 1935 lediglich das Ziel einer möglichst preiswürdigen Versorgung, hat die Rechtsprechung daraus zutreffend  den Rahmen für die Billigkeitskontrolle hergeleitet (vgl. BGH, Urt. v. 02.10.1991 VIII ZR 240/90 unter III.).

Der Lieferant, welcher Grundversorger ist, hat mit den Allgemeinen Preisen die (behördlich genehmigten) Netznutzungsentgelte des Netzbetreibers, die Kosten der Messung und Abrechnung, die Großhandelspreise für die Beschaffung auf dem Markt, die alle Lieferanten betreffende staatliche Umlagen und eigene Vertreibskosten abzudecken und darf dabei einen angemessenen Gewinnanteil generieren.

Strom- Grundversorger haben die nicht von ihnen beeinflussbaren Preisbestandteile transparent auszuweisen, so dass der Grundversorgeranteil am Allgemeinen Preis ersichtlich wird und tun dies auch schon:

http://forum.energienetz.de/index.php/topic,19311.0.html

Somit sind diese Grundversorgeranteile "gleichnamig" gemacht und lassen sich untereinander vergleichen.

Die Großhandelspreise und deren Entwicklung sind marktöffentlich und für alle Lieferanten gleich.

Tatsächliche Beschaffungskosten oberhalb dieser Marktpreise dürfen wegen der Verpflichtung aus §§ 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 EnWG nicht über die Allgemeinen Preise auf grundversorgte Kunden abgewälzt werden (vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2008 Az. VIII ZR 138/07, juris Rn. 43 mwN).

Subtrahiert man vom Grundversorgeranteil am Allgemeinen Preis die marktöffentlichen Großhandelspreise, verbleiben die - mit anderen Grundversorgern vergleichbaren -  Vetriebskosten einschließlich Gewinnanteil.

Subtrahiert  man etwa von den genannten 8,69 Ct/ kWh einen Großhandelspreis von 4 Ct/ kWh für die Beschaffungskosten [derzeitige Großhandelspreise liegen eher bei 3,2 Ct/kWh], verbleiben dort immer noch 4,69 Ct/kWh für Vertriebkosten und Gewinnanteil.

Die eigentlichen Vertriebskosten stellen sich angesichts der Absatzmengen zumeist als eher vernachlässigaber marginal heraus.

Der Gewinnanteil der Grundversorger- Vertriebe nähert sich deshalb  den Großhandelspreisen und damit den Stromerzeugungskosten an oder übersteigt diese sogar!

Den gemeinsamen Monitoringberichten des Bundeskartellamtes und der Bundesnetzagentur kann entnommen werden, dass die Vertriebsmargen bei der Grundversorgung in den letzten Jahren nicht uenerheblich ausgeweitet wurden [hauptsächlich durch Nichtweitergabe gesunkener Beschaffungskosten].
   
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 14. Juli 2015, 10:04:26
Dass die Bestimmungen des § 315 BGB keine ausreichende Konkretisierung und unzureichende Transparenzerfordernisse aufweisen, hatten wir schon einmal (BGH, 21.12.1983, Az.: VIII ZR 195/82, Tz. 17):
Zitat
Beide Vorinstanzen haben demgegenüber die Vertragsklausel für wirksam gehalten, weil die Beklagte bei sinngemäßer Auslegung von ihrem Änderungsrecht nur unter Anwendung billigen Ermessens (analog § 315 BGB) Gebrauch machen dürfe. Diese Einschränkung möchte die Beklagte sowohl auf die Feststellung der Voraussetzungen als auch auf das Ausmaß zulässiger Maßnahmen angewandt wissen, wobei sie auf die Möglichkeit späterer gerichtlicher Nachprüfung (§ 315 Abs. 3 Satz 2 BGB) verweist. An der Unwirksamkeit der zu weit gefaßten Klausel ändert die Einbeziehung des Rechtsgedankens aus § 315 BGB jedoch nichts. Diese Bestimmung scheidet als unmittelbare Rechtfertigung der streitigen Klausel schon deshalb aus, weil sie eine wirksame Anwendungsvereinbarung bereits voraussetzt und die Entscheidung über die Wirksamkeit der Vertragsklausel sich ausschließlich nach den Angemessenheitsmaßstäben des § 9 AGB-Gesetz bzw. den früher dazu entwickelten Grundsätzen richtet (Senatsurteil vom 18. Mai 1983 - VIII ZR 20/82 = NJW 1983, 1603 [BGH 18.05.1983 - VIII ZR 20/82] = WM 1983, 680 unter II 2 b cc). Auch als inhaltliche Beschränkung des Anwendungsbereichs der Klausel läßt sich der in § 315 BGB enthaltene Rechtsgedanke nicht verwerten. Der weite Spielraum der Billigkeit genügt nicht den an die Eingrenzung und Konkretisierung einer Formularbestimmung zu stellenden Anforderungen (Senatsurteil vom 11. Juni 1980 - VIII ZR 174/79 = NJW 1980, 2518 = WM 1980, 1120 unter II 2 d; wie hier auch Graf von Westphalen NJW 1982, 2465, 2468, 2471 f). Er läßt im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, auf den es für die Wirksamkeit einer Formularklausel ankommt, keine Beurteilung der möglichen Anwendungsfälle zu und ist deshalb als inhaltsbestimmendes Tatbestandsmerkmal ungeeignet. Was insoweit für die abstrakte Prüfung einer AGB-Bestimmung nach § 13 AGB-Gesetz gilt (Senatsurteil vom 11. Juni 1980 a.a.O. unter II 2 c), kann in einem Individualprozeß der vorliegenden Art nicht anders beurteilt werden, weil für den Haupthändler - hier den Kläger - auch bei Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse und Umstände kein Kriterium ersichtlich ist, auf Grund dessen er bei Vertragsabschluß einschätzen könnte, unter welchen Voraussetzungen die Beklagte eine Gebietsänderung für erforderlich halten werde (vgl. zu den Anforderungen im Individualprozeß auch BGHZ 82, 238 ff [BGH 01.12.1981 - K ZR 37/80]).

Zwar will man diesem Instrument deshalb Kontur geben, weil die Versorger nicht nur das Recht zur Anpassung haben sollen, sondern auch die Pflicht hierzu. Mit Blick auf die Praxis erweist sich auch dieser "Tiger als ein Bettvorleger", weil sich eine Verwässerung allenthalben (mit Blick auf angebliche praktische Unzulänglichkeiten) aufzeigt.

Das kommt ja auch schon in der Entscheidung vom 02.10.1991 (Az.: VIII ZR 240/90) zum Anklang, wenn man dort die Mühen betrachtet, wie sich der 8.ZS. um Begrenzung des in § 315 BGB eingeräumten Ermessens einzugrenzen bemüht, nachdem das Reichsgericht hierin noch einen sehr großzügigen Maßstab gebilligt hatte (Verbraucherrechte waren damals halt noch nicht geboren bzw. Stiefkinder).

Und wenn selbst heute schon Überlegungen im Gange sind, dem Richter hierbei großzügige Schätzungen nach § 287 ZPO zuzubilligen, dann gibt es in der Energieversorgung gegen den Verbraucherschutz kein Halten mehr (EuGH - das Pfeifen im Walde).

Und mir ist noch kein SV begegnet, der sich die Preisbildung so subtil angesehen hat, wie das (erhellend) von @RR-E-ft  beschrieben wurde (und dennoch des Richters Überzeugung von der Billigkeit ausschlaggebend bestimmt hat).
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 14. Juli 2015, 19:04:33
zu #11 (@RR-E-ft)

Folglich könnte die Formel der Allgemeinen Preise eines Lieferanten, welcher Grundversorger ist,  auf den folgenden Nenner gebracht werden:

Arbeitspreis -AP- (a)
./.  (aa.) Netznutzungsentgelte des Netzbetreibers (behördlich genehmigt) ,
./.  (bb.) Kosten der Messung und Abrechnung,
./.  (cc.)  staatliche Umlagen

Zwischensumme (b)
   = Delta (a.) ./. (aa.- cc.) = Grundversorgeranteil am AP
./.  (dd.)  Großhandelspreise für die Beschaffung auf dem Markt,

Zwischensumme (c)
   = Delta (b.) ./. (dd.) = Gewinnanteil incl. (ee.) eigene Vertriebskosten


zu dd.)
Großhandelspreise und deren Entwicklung sind marktöffentlich und für alle Lieferanten gleich. Tatsächliche Beschaffungskosten oberhalb dieser Marktpreise dürfen wegen der Verpflichtung aus §§ 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 EnWG nicht über die Allgemeinen Preise auf grundversorgte Kunden abgewälzt werden (vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2008 Az. VIII ZR 138/07, juris Rn. 43 mwN).

zu c.)
Die eigentlichen Vertriebskosten (ee.) stellen sich angesichts der Absatzmengen zumeist als eher vernachlässigaber marginal heraus.
Den gemeinsamen Monitoringberichten des Bundeskartellamtes und der Bundesnetzagentur kann entnommen werden, dass die Vertriebsmargen bei der Grundversorgung in den letzten Jahren nicht uenerheblich ausgeweitet wurden [hauptsächlich durch Nichtweitergabe gesunkener Beschaffungskosten].
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 27. August 2015, 20:00:04
Wenn das Orakel am 23.09.2015 spricht, dann wird die Welt der Energieversorgung

(a) neu
(b) anders
(c) nicht anders

geschrieben. Darüber könnte doch mal vorab abgestimmt werden.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: uwes am 24. September 2015, 22:48:35
Wenn das Orakel am 23.09.2015 spricht, dann wird die Welt der Energieversorgung

Gab es eine Entscheidung? Ich konnte nichts finden.
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 25. September 2015, 16:31:49
@uwes

Nein, die Urteilsverkündung wurde vertagt (aus dienstlichen Gründen) bis in den November 2015.

Grüße
KW
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: uwes am 28. September 2015, 20:06:34
Lieber Kollege,

darf ich angesichts Ihrer detaillierten Kenntnis von den Terminierungen annehmen, dass Sie an diesen Verfahren beteiligt sind?
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 23. Oktober 2015, 13:29:19
Die Verkündung der Entscheidung des 8. Zivilsenats BGH ist auf den 28.10.2015 mitgeteilt worden, im Nachgang zur Verhandlung vom 08.07.2015.

Die Spannung steigt  8)
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: tangocharly am 26. Oktober 2015, 15:09:46
Hier die beteiligten Verfahren:
Zitat
In den ersten beiden "Pilotverfahren" der ausgesetzten Rechtsstreitigkeiten steht – nach einer bereits im Juli 2015 erfolgten Verhandlung – nunmehr Verkündungstermin an. Beide Verfahren betreffen die Energieversorgung mit Gas im Tarifkundenverhältnis.

VIII ZR 158/11

LG Düsseldorf - Urteil vom 28. Januar 2009 - 34 O (Kart) 112/08

OLG Düsseldorf - Urteil vom 13. April 2011 - VI-2 U (Kart) 3/09

und

VIII ZR 13/12

LG Dortmund - Urteil vom 20. August 2009 - 13 O 179/08 Kart

OLG Düsseldorf -Urteil vom 21. Dezember 2011 - VI-3 U (Kart) 4/11

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501
Titel: Re: mdl. Vhdl. 08.07.15 VIII ZR 13/12 Tarifkunden nach EuGH
Beitrag von: RR-E-ft am 28. Oktober 2015, 11:53:38
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2015&Sort=3&nr=72653&pos=0&anz=184

Zitat
Nr. 183/2015

Änderung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Preisanpassungsrecht der Energieversorgungsunternehmen

im Bereich der Erdgasversorgung von Tarifkunden (Gasgrundversorgung)

Urteile vom 28. Oktober 2015 – VIII ZR 158/11 und VIII ZR 13/12

Der Bundesgerichtshofs hat sich heute in zwei Grundsatzentscheidungen mit der Frage befasst, ob an seiner bisherigen Rechtsprechung zum Bestehen eines gesetzlichen Preisänderungsrechts der Gasversorgungsunternehmen gegenüber Tarifkunden (Gasgrundversorgung) festgehalten werden kann. Er hat dies verneint, da die entsprechenden Vorschriften des nationalen Rechts nach einem auf Vorlage des Bundesgerichtshofs ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) nicht mit den Transparenzanforderungen der Gas-Richtlinie 2003/55/EG vereinbar sind. Die Gasversorgungsunternehmen bleiben jedoch aufgrund einer gebotenen ergänzenden Vertragsauslegung des Gaslieferungsvertrages berechtigt, Steigerungen ihrer eigenen (Bezugs-)Kosten an die Tarifkunden weiterzugeben.

Die klagenden Energieversorgungsunternehmen hatten Steigerungen ihrer eigenen Gasbezugskosten zum Anlass genommen, diese durch entsprechende, in den Jahren 2004 bis 2006 vorgenommene Preiserhöhungen an die beklagten Tarifkunden weiterzugeben. Diese widersprachen den Preiserhöhungen und zahlten die Erhöhungsbeträge nicht oder lediglich zu einem geringen Teil. Mit ihren Klagen haben die Gasversorgungsunternehmen die Zahlung des restlichen Entgelts in Höhe von 813,35 € bzw. 1.533,19 € für die von ihnen erbrachten Erdgaslieferungen begehrt.

Die Klagen haben in den Vorinstanzen Erfolg gehabt. Die von den Berufungsgerichten in beiden Verfahren zugelassenen Revisionen der beklagten Gaskunden hat der Bundesgerichtshof zurückgewiesen.

Der unter anderem für das Kaufrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass den klagenden Gasversorgungsunternehmen ein Recht zur Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen zwar nicht (mehr) aus § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV*, aber aufgrund einer gebotenen ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) des Gaslieferungsvertrages der Parteien zusteht.

Der Senat hat - ebenso wie der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs - bisher aus § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV bzw. § 5 Abs. 2 GasGVV** entnommen, dass diese Vorschriften den Gasversorgungsunternehmen im Bereich der - hier gegebenen - Versorgung von Tarifkunden ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht gewähren, so dass den Gasversorgungsunternehmen das Recht zusteht, Preise nach (gerichtlich überprüfbarem) billigem Ermessen (§ 315 BGB) zu ändern. Der Senat hat allerdings die in Art. 3 Abs. 3 Satz 4 bis 6 in Verbindung mit Anhang A Buchst. b und c der Gas-Richtlinie 2003/55/EG*** enthaltenen Transparenzanforderungen zum Anlass genommen, durch Beschluss vom 18. Mai 2011 (VIII ZR 71/10) dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen, ob die vorgenannten Bestimmungen der Gas-Richtlinie dahin auszulegen sind, dass § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV als Regelung über Preisänderungen den Anforderungen der Richtlinie an das erforderliche Maß an Transparenz genügt.

Der EuGH hat diese Frage durch Urteil vom 23. Oktober 2014 (Rs. C-359/11 und C-400/11 - Schulz und Egbringhoff) verneint und zur Begründung ausgeführt, der Kunde müsse, um die ihm zustehenden Rechte, sich im Falle von Preiserhöhungen vom Liefervertrag zu lösen oder gegen Änderungen der Lieferpreise vorzugehen, in vollem Umfang und tatsächlich nutzen zu können, rechtzeitig vor dem Inkrafttreten dieser Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden. Deshalb genüge eine nationale Regelung wie die hier in Rede stehende Vorschrift des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV, die nicht gewährleiste, dass einem Haushaltskunden die vorstehend angeführte Information rechtzeitig übermittelt werde, den in der Gas-Richtlinie 2003/55/EG aufgestellten Anforderungen nicht.

Aufgrund dieses für die nationalen Gerichte bindenden Auslegungsergebnisses des EuGH hat der VIII. Zivilsenat - im Einvernehmen mit dem Kartellsenat des Bundesgerichtshofs - entschieden, dass an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV jedenfalls für die Zeit nach Ablauf der bis zum 1. Juli 2004 reichenden Frist zur Umsetzung der Gas-Richtlinie nicht mehr festgehalten werden kann.

Ein den Transparenzanforderungen der Gas-Richtlinie 2003/55/EG entsprechendes gesetzliches Preisänderungsrecht kann nach Auffassung des Senats auch nicht aus einer - von den nationalen Gerichten sonst im Regelfall vorzunehmenden - richtlinienkonformen Auslegung der einschlägigen nationalen Regelungen hergeleitet werden. Denn eine solche Auslegung des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV ginge hier in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise über den erkennbaren Willen des (nationalen) Gesetz- und Verordnungsgebers hinaus, der die Grenze für eine richtlinienkonforme Auslegung durch das Gericht bildet.

Die in der AVBGasV hinsichtlich der Transparenzanforderungen bestehende Lücke führt allerdings, da die Regelungen der AVBGasV zwingend Bestandteil des Gaslieferungsvertrages der Parteien sind und letztere daher bei Abschluss ihres Tarifkundenvertrages das Bestehen eines gesetzlichen Preisänderungsrechts als gegeben vorausgesetzt haben, auch zu einer von ihnen unbeabsichtigten Unvollständigkeit des Vertrages in einem wesentlichen Punkt. Diese Vertragslücke ist, wie der VIII. Zivilsenat nunmehr entschieden hat, durch eine gebotene ergänzende Vertragsauslegung des Gaslieferungsvertrags der Parteien zu schließen. Bei der ergänzenden Vertragsauslegung geht es darum zu ermitteln, was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie bedacht hätten, dass die Wirksamkeit der angewendeten Preisänderungsbestimmung jedenfalls unsicher war. Dies führt zu dem Ergebnis, dass die Parteien als redliche Vertragspartner vereinbart hätten, dass das Gasversorgungsunternehmen berechtigt ist, Steigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an den Tarifkunden weiterzugeben, und das Gasversorgungsunternehmen verpflichtet ist, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen.

Ohne eine solche Berechtigung des Gasversorgungsunternehmens, Preiserhöhungen zwar nicht mehr in dem bisher nach § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV für möglich erachteten Umfang vorzunehmen, aber (Bezugs-)Kostensteigerungen an den Kunden weiterzugeben, bestünde angesichts des kontinuierlichen Anstiegs der Energiepreise bei langfristigen Versorgungsverträgen regelmäßig ein gravierendes, dem Äquivalenzprinzip zuwiderlaufendes Ungleichgewicht von Leistung und Gegenleistung. Dies wäre unbillig und würde dem Kunden einen unverhofften und ungerechtfertigten Gewinn verschaffen. Dies entspräche auch nicht dem objektiv zu ermittelnden hypothetischen Parteiwillen, zumal in Fällen der Grundversorgung - wie hier - die Energieversorgungsunternehmen gesetzlich verpflichtet sind, zu den Allgemeinen Bedingungen und Preisen jeden Haushaltskunden mit Gas zu versorgen, sie mithin einem Kontrahierungszwang unterliegen und sie zur (ordentlichen) Kündigung des Tarifkundenvertrages (Grundversorgungsvertrages) nur in sehr eingeschränktem Maße berechtigt sind. Die Bedeutung dieser beiden Gesichtspunkte für das wirtschaftliche Interesse des Grundversorgers hat auch der EuGH in seinem oben genannten Urteil vom 23. Oktober 2014 (Rs. C-359/11 und C-400/11) hervorgehoben.

In den beiden heute entschiedenen Fällen haben die Gasversorgungsunternehmen nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen der Berufungsgerichte lediglich Bezugskostensteigerungen weitergegeben, so dass ihren Zahlungsklagen im Ergebnis zu Recht stattgegeben worden ist. Der Senat hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, dass die Beurteilung, ob die Preiserhöhungen des Gasversorgungsunternehmens dessen (Bezugs-)Kostensteigerungen (hinreichend) abbilden, vom Tatrichter auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schätzungsmöglichkeit nach § 287 Abs. 2 in Verbindung mit § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO**** vorzunehmen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Weitergabe der Kostensenkungen und Kostenerhöhungen nicht tagesgenau erfolgen muss, sondern auf die Kostenentwicklung in einem gewissen Zeitraum abzustellen ist. Die Bemessung dieses Zeitraums obliegt der Beurteilung des Tatrichters nach den Umständen des Einzelfalls. In den meisten Fällen wird das Gaswirtschaftsjahr ein geeigneter Prüfungsmaßstab sein.

Der Senat hat darüber hinaus entschieden, dass für Preiserhöhungen, die über die bloße Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen hinausgehen und der Erzielung eines (zusätzlichen) Gewinns dienen, die Grundsätze der zu den (Norm-)Sonderkundenverträgen entwickelten Rechtsprechung des Senats zu gelten haben, wonach der Kunde sich bei einem langjährigen Energielieferungsverhältnis, wenn er die Preiserhöhung nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat, nicht mehr mit Erfolg gegen die Preiserhöhung wenden kann. Denn es besteht kein sachlicher Grund, den Grundversorger insoweit anders zu behandeln als den Energieversorger im (Norm-)Sonderkundenbereich, der nicht den mit der Grundversorgung verbundenen wirtschaftlichen Erschwernissen ausgesetzt ist.

VIII ZR 158/11

LG Düsseldorf - Urteil vom 28. Januar 2009 - 34 O (Kart) 112/08

OLG Düsseldorf - Urteil vom 13. April 2011 - VI-2 U (Kart) 3/09

und

VIII ZR 13/12

LG Dortmund - Urteil vom 20. August 2009 - 13 O 179/08 Kart

OLG Düsseldorf - Urteil vom 21. Dezember 2011 - VI-3 U (Kart) 4/11

Karlsruhe, den 28. Oktober 2015

* § 4 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von
Tarifkunden vom 21. Juni 1979 (AVBGasV; in Kraft bis zum 7. November 2006)

(1) 1Das Gasversorgungsunternehmen stellt zu den jeweiligen allgemeinen Tarifen und Bedingungen Gas zur Verfügung. […]

(2) Änderungen der allgemeinen Tarife und Bedingungen werden erst nach öffentlicher Bekanntgabe wirksam.

[…]

** § 5 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grundversorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Gas aus dem Niederdrucknetz vom 26. Oktober 2006 (Gasgrundversorgungsverordnung - GasGVV; in Kraft ab dem 8. November 2006)

[…]

(2) Änderungen der Allgemeinen Preise und der ergänzenden Bedingungen werden jeweils zum Monatsbeginn und erst nach öffentlicher Bekanntgabe wirksam, die mindestens sechs Wochen vor der beabsichtigten Änderung erfolgen muss. Der Grundversorger ist verpflichtet, zu den beabsichtigten Änderungen zeitgleich mit der öffentlichen Bekanntgabe eine briefliche Mitteilung an den Kunden zu versenden und die Änderungen auf seiner Internetseite zu veröffentlichen.

[…]

§ 5 Abs. 2 GasGVV (ab dem 30. Oktober 2014 geltende Fassung)

[…]

(2) Änderungen der Allgemeinen Preise und der ergänzenden Bedingungen werden jeweils zum Monatsbeginn und erst nach öffentlicher Bekanntgabe wirksam, die mindestens sechs Wochen vor der beabsichtigten Änderung erfolgen muss. Der Grundversorger ist verpflichtet, zu den beabsichtigten Änderungen zeitgleich mit der öffentlichen Bekanntgabe eine briefliche Mitteilung an den Kunden zu versenden und die Änderungen auf seiner Internetseite zu veröffentlichen; hierbei hat er den Umfang, den Anlass und die Voraussetzungen der Änderung sowie den Hinweis auf die Rechte des Kunden nach Absatz 3 und die Angaben nach § 2 Absatz 3 Satz 1 Nummer 7 in übersichtlicher Form anzugeben.

[…]

*** Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (in Kraft vom 4. August 2003 bis zum 2. März 2011)

Art. 3 - Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und Schutz der Kunden

[…]

(3) Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzes und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht, wozu auch geeignete Maßnahmen gehören, mit denen diesen Kunden geholfen wird, den Ausschluss von der Versorgung zu vermeiden. 2In diesem Zusammenhang können sie Maßnahmen zum Schutz von Kunden in abgelegenen Gebieten treffen, die an das Erdgasnetz angeschlossen sind. Sie können für an das Gasnetz angeschlossene Kunden einen Versorger letzter Instanz benennen. Sie gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zugelassene Kunden tatsächlich zu einem neuen Lieferanten wechseln können. Zumindest im Fall der Haushalts-Kunden schließen solche Maßnahmen die in Anhang A aufgeführten Maßnahmen ein.

[…]

Anhang A - Maßnahmen zum Schutz der Kunden

Unbeschadet der Verbraucherschutzvorschriften der Gemeinschaft, insbesondere der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 93/13/EG des Rates, soll mit den in Artikel 3 genannten Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Kunden

[…]

b) rechtzeitig über eine beabsichtigte Änderung der Vertragsbedingungen und dabei über ihr Rücktrittsrecht unterrichtet werden. Die Dienstleister teilen ihren Kunden direkt jede Gebührenerhöhung mit angemessener Frist mit, auf jeden Fall jedoch vor Ablauf der normalen Abrechnungsperiode, die auf die Gebührenerhöhung folgt. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass es den Kunden freisteht, den Vertrag zu lösen, wenn sie die neuen Bedingungen nicht akzeptieren, die ihnen ihr Gasdienstleister mitgeteilt hat;

c) transparente Informationen über geltende Preise und Tarife sowie über die Stan-dardbedingungen für den Zugang zu Gasdienstleistungen und deren Inanspruchnahme erhalten;

[…]

**** § 287 ZPO - Schadensermittlung; Höhe der Forderung

(1) Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen sei, bleibt dem Ermessen des Gerichts überlassen. […]

(2) Die Vorschriften des Absatzes 1 Satz 1, 2 sind bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten auch in anderen Fällen entsprechend anzuwenden, soweit unter den Parteien die Höhe einer Forderung streitig ist und die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgebenden Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die zu der Bedeutung des streitigen Teiles der Forderung in keinem Verhältnis stehen.

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
76125 Karlsruhe
Telefon (0721) 159-5013
Telefax (0721) 159-5501

Interssant ist noch einmal ein Rückblick auf den Aussetzungsbeschluss in der Sache:

BGH, B. v. 17.07.12 VIII ZR 13/12 Aussetzung bei Tarifkunden (http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&Seite=1&nr=61189&pos=45&anz=635)


Zitat
Anders als das Berufungsgericht offenbar meint, kann die Frage der Europarechtskonformität der § 4 Abs. 1, 2 AVBGasV und § 5 Abs. 2 GasGVV nicht im Hinblick auf die vom Berufungsgericht erwogene ergänzende Vertragsauslegung offenbleiben.

Eine ergänzende Vertragsauslegung hat sich nicht nur an dem hypothetischen Parteiwillen, sondern auch an dem objektiven Maßstab von Treu und Glauben zu orientieren und muss zu einer die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigenden Regelung führen. Es geht daher darum zu ermitteln, was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie bedacht hätten, dass die Wirksamkeit der angewendeten Preisänderungsbestimmung jedenfalls unsicher war (vgl. Senatsurteil vom 14. März 2012 VIII ZR 113/11, NJW 2012, 1865 Rn. 24 mwN). Vor diesem Hintergrund hat der Senat bereits entschieden, dass es bei unwirksamen Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht in Betracht kommt, an die Stelle einer unwirksamen Preisänderungsbestimmung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung eine (wirksame) Bestimmung gleichen Inhalts zu setzen (vgl. Senatsurteil vom 14. März 2012 VIII ZR 113/11, aaO). Diese Erwägungen lassen sich jedenfalls im Grundsatz auch auf die Fälle übertragen, in denen wie hier die Europarechtskonformität von Verordnungsbestimmungen, nämlich der § 4 Abs. 1, 2 AVBGasV, § 5 Abs. 2 GasGVV, in Frage steht.

Aufgrund der Entscheidungserheblichkeit der unter Ziffer 1 genannten Frage kann der Senat in dieser Sache unter Beachtung seiner in Art. 267 Abs. 3 AEUV enthaltenen Vorlageverpflichtung keine abschließende Sachentscheidung treffen. Eine Vorlage auch dieses Verfahrens an den Gerichtshof würde jedoch dort nicht zu einer schnelleren Beantwortung der maßgeblichen Rechtsfrage führen (Senatsbeschluss vom 24. Januar 2012 VIII ZR 236/10, juris Rn. 7 mwN). Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass der Gerichtshof seinerseits das Verfahren C-359/11 bis nach der Urteilsverkündung in den Rechtssachen C-8/11 und C-92/11 ausgesetzt hat.

Auf die genaue Begründung im Urteilstext dazu, warum ein lediglich der Billigkeitskontrolle unterliegendes einseitiges Bestimmungsrecht im Wege der ergänzenden an die Stelle der europarechtlich unzulässigen gesetzlichen Regelung treten soll, darf man deshalb gespannt sein. Schließlich enthielt die europrechtlich unzulässige gesetzliche Regelung nach bisheriger Auffassung des Senats nichts anderes als ein ebensolches lediglich an den Maßstab der Billigkeit gebundenes einseitiges Leistungsbestimmungsrecht im Sinne des § 315 BGB.  Die Entscheidung des EuGH hatte demnach auf den Ausgang der Verfahren tatsächlich keinen Einfluss.

Der BGH hat im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung eine  Klausel in alle betroffenen Verträge implementiert, die ihrerseits aus den vom EuGH genannten Gründen gegen EU- Recht verstößt und deshalb jedenfalls auch als AGB unwirksam ist.

Nicht ersichtlich ist, warum sich ein betroffener Kunde gerade mit einer solchen  Klausel eiverstanden erklären sollte, die ihn gegenüber verbraucherschützenden EU- Normen schlechtertsellt, warum er insoweit auf ihn schützendes EU- Recht verzichten sollte. Mit Rücksicht auf das geltende EU- Recht hätte der betroffene Kunde wohl redlicherweise nur in eine solche Klausel eingewilligt, die diesem Rechnung trägt, so dass der Kunde, um die ihm zustehenden Rechte, sich im Falle von Preiserhöhungen vom Liefervertrag zu lösen oder gegen Änderungen der Lieferpreise vorzugehen, in vollem Umfang und tatsächlich nutzen zu können, rechtzeitig vor dem Inkrafttreten dieser Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden müsse (siehe auch OLG Düsselsdorf, Urt. v. 13.06.12 Az. VI- 2 U (Kart) 10/11;http://forum.energienetz.de/index.php/topic,17273.msg93960.html#msg93960)

Das OLG Düsseldorf hatte aaO. entschieden:

Zitat
Aufgrund dessen sind die Richtlinienbestimmungen und die darin an Preisanpassungen normierten Anforderungen im Wege richtlinienkonformer Auslegung in die genannten Vorschriften der AVBGasV und der GasGVV hineinzulesen und genauso bei der ergänzenden Vertragsauslegung zu berücksichtigen. Der Verordnungswortlaut steht einer richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen. Gegebenenfalls widerstreitende Motive des nationalen Gesetzgebers und der diesbezügliche Vortrag der Klägerin sind unbeachtlich. Das Richtlinienrecht der Union geht nationalen Rechtsvorschriften und deren Interpretation vor.

Nach der Entscheidung muss sich der betroffene Kunde nicht mehr kurzfristig in angemessener Frist nach der einseitigen Preisänderung auf deren Unbilligkeit berufen, sondern hat - solange die gesetzliche Regelung gegen Europarecht verstieß und deshalb unwirksam war - dafür drei Jahre Zeit, beginnend ab dem Zeitpunkt, zu dem der erhöhte Preis erstmals mit Verbrauchsabrechnung zur Abrechnunmg gestellt wurde, der betroffene Kunde die entsprechende Verbrauchsabrechnung erhalten hat.

 
Titel: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: energienetz am 29. Oktober 2015, 10:10:44
Prof. Dr. Kurt Markert


Kurzstellungnahme zu den BGH-Urteilen vom 28.10.2015, VIII ZR 158/11 und VIII ZR 13/12

Nach dem EuGH-Urteil vom 23.10.2014, C – 359/11 und C – 400/11, erfüllt ein durch eine nationale Rechtsnorm den Strom- und Gasversorgern eingeräumtes einseitiges Preisänderungsrecht für unter die allgemeine Versorgungspflicht fallende Verbraucherverträge die Transparenzanforderungen der EU-Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas von 2003 nur dann, wenn es die Verpflichtung des Versorgers einschließt, erstens die Verbraucher vor Inkrafttreten der jeweiligen Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang zu informieren und zwar, zweitens,  so rechtzeitig vorher, dass die Verbraucher in voller Sachkenntnis über eine mögliche Lösung vom Vertrag oder ein Vorgehen gegen die Änderung entscheiden können. Dass diese beiden Anforderungen nicht gelten sollen, soweit sich das Änderungsrecht des Versorgers darauf beschränkt, dass lediglich Steigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, falls diese nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an die Kunden weitergegeben werden, lässt sich aus dem Urteil des EuGH nicht entnehmen. Der VIII. Zivilsenat des BGH hat aber im Gegensatz dazu in seinen beiden Urteilen vom 28.10.15 eine solche Ausnahme durch eine ergänzende Vertragsauslegung geschaffen. Dies widerspricht jedoch dem Urteil des EuGH, denn auch dieses begrenzte Preisänderungsrecht des Versorgers muss die Transparenzanforderungen der EU-Binnenmarktrichtlinien in der Auslegung des EuGH-Urteils vom 23.10.2014 erfüllen.

In den beiden vom BGH entschiedenen Fällen ging es hauptsächlich um einseitige Gastarifänderungen, die auf das bisher vom Senat aus § 4 Abs. 2 und 3 der bis November 2006 geltenden AVBGasV gefolgerte (gesetzliche) Preisanpassungsrecht gestützt waren. Dieses Recht erfüllte aber nicht einmal die zweite vom EuGH in seinem Urteil genannte Anforderung der rechtzeitigen Vorabinformation der Kunden über geplante Änderungen, denn nach § 4 Abs. 2 AVBGasV wurden diese sofort mit der öffentlichen Bekanntgabe wirksam. Aber auch die erste Anforderung, die Vorabinformation über Anlass, Voraussetzungen und Umfang der jeweiligen Änderung, wurde durch diese Vorschriften nicht erfüllt. Letzteres gilt auch für die während der Geltungsdauer der an die Stelle der AVBGasV getretenen GasGVV erfolgten Preiserhöhungen. Denn nach § 5 Abs. 2 Satz 1 GasGVV müssen beabsichtigte Preisänderungen zwar sechs Wochen vorher zum jeweiligen Monatsbeginn öffentlich bekanntgegeben werden. Aber auch hier beinhaltet das aus der Vorschrift vom BGH gefolgerte (gesetzliche) Preisanpassungsrecht keine Verpflichtung des Versorgers zur Information über Anlass, Voraussetzungen und Umfang der jeweils beabsichtigten Erhöhung. Richtigerweise hat daher der Senat daher mit seinen beiden Urteilen vom 28.10.2015 seine bisherige Rechtsprechung, dass sich aus diesen Vorschriften ein gesetzliches Preisanpassungsrecht des Versorgers ergibt, wegen Unvereinbarkeit mit den europarechtlichen Transparenzanforderungen aufgegeben, die sich aus dem Wegfall dieses Rechts entstehende Vertragslücke jedoch im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung durch ein Recht zur Kostenweitergabe ausgefüllt.

Damit hat aber der Senat schon seinen eigenen Entscheidungen widersprochen, die Verfahren in den beiden entschiedenen Fällen im Hinblick auf seine Vorlagen an den EuGH zunächst mit der Begründung auszusetzen, für die von den Versorgern jeweils erhobenen Nachzahlungsforderungen sei die Frage, ob das gesetzliche Preisbestimmungsrecht, auf das die streitigen einseitigen Erhöhungen gestützt waren, mit den Transparenzanforderungen der EU-Binnenmarktrichtlinien vereinbar ist, entscheidungserheblich. Nach den beiden Urteilen vom 28.10.15 ist dies aber gerade nicht der Fall. Denn danach besteht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein einseitiges Preisänderungsrecht des Versorgers auch unabhängig von den europarechtlichen Transparenzanforderungen, soweit mit den Änderungen nur eigene (Bezugs-)Kostensteigerungen des Versorgers an die Kunden weitergegeben werden. Dies hatten beide Vorinstanzen nach Ansicht des Senats verbindlich festgestellt.

Die neue Variante der ergänzenden Vertragsauslegung in den Urteilen vom 28.10.2015 widerspricht auch der Rechtsprechung des Senats zur ergänzenden Vertragsauslegung, soweit in Sonderkundenverträgen formularmäßige Preisanpassungsklauseln nach § 307 Abs. 1 BGB z. B. wegen Verstoßes gegen die europarechtliche Transparenzanforderungen unwirksam (Urteil vom 31.7.2013 – RWE Vertrieb). Denn hierzu hat der Senat gerade nicht, wie in den die Tarifkunden- und Grundversorgung betreffenden Urteilen vom 28.10.2015, mittels ergänzender Vertragsauslegung entschieden, dass die streitigen Preiserhöhungen, soweit mit ihnen lediglich (Bezugs-)Kostensteigerungen an die Kunden weitergegeben werden, auch unabhängig von der Erfüllung der europarechtlichen Transparenzanforderungen wirksam sind, sondern die ergänzende Vertragsauslegung darauf beschränkt, dass vom Kunden nicht innerhalb von drei Jahren nach Rechnungsstellung beanstandete Preiserhöhungen für ihn verbindlich werden (Fristenlösung, „t-3“-Rechtsprechung). Diese unterschiedliche Behandlung beider Vertragstypen in der Frage der ergänzenden Vertragsauslegung ist nicht nachvollziehbar, zumal nach den Urteilen vom 28.10.2015 für die über die bloße Kostenweitergabe hinausgehenden Erhöhungsbeträge auch noch die Fristenlösung (“t-3“-Rechtssprechung) in der für die Sonderkundenverträge geltenden Ausgestaltung gilt. Die Folge ist eine weitere Schlechterbehandlung der Tarif- und Grundversorgungskunden im Vergleich zu den Sonderkunden, obwohl sich erstere typischerweise in einer schwächeren Position gegenüber den Versorgern befinden und deshalb stärker schutzbedürftig sind.

Gegen die beiden BGH-Urteile vom 28.10.2015 gibt es kein Rechtsmittel. Es ist damit zu rechnen, dass der Senat auch die noch verbleibenden 11 weiteren Fälle, in denen er das Verfahren ebenfalls im Hinblick auf seine beiden Vorlagen an den EuGH ausgesetzt hatte, nach dem Muster dieser Urteile entscheiden wird, d. h. mittels des gleichen „Kunstgriffs“, an die Stelle des aus den AVBGasV und GasGVV gefolgerten und europarechtlich nicht mehr haltbaren gesetzlichen Preisänderungsrechts mittels ergänzender Vertragsauslegung ein auf die Weitergabe von (Bezugs-)Kostensteigerungen begrenztes Änderungsrecht zu setzen. Die davon benachteiligten Verbraucher können aber in diesen Fällen den Senat auffordern, wegen der Zweifel an der Vereinbarkeit seiner in den Urteilen vom 28.10.2015 vertretenen Rechtsauffassung mit den Transparenzanforderungen der EU-Binnenmarktrichtlinien in der Auslegung des EuGH-Urteils vom 23.10.2015 die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Als letztinstanzlich entscheidendes Gericht ist der BGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bei solchen Zweifeln zur Vorlage verpflichtet. Weigerte er sich, dieser Aufforderung zu folgen, entzöge er die betroffenen Verbraucher unter Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 GG ihrem gesetzlichen Richter, was mit einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht angefochten werden könnte.
Titel: Re: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: uwes am 30. Oktober 2015, 18:05:20
Die erste Reaktion, die mir beim Lesen der PM einfiel war die:

Der VIII. Zivilrechtserfindungssenat urteilt ein ohnehin bereits als unwirksam und intransparent anzusehendes Preisänderungsrecht aus, dessen Inhalt in der Anwendung des als nicht rechtskonform beurteilten Gesetzes (AVBGasV i.V.m. §§ 2,1 ENWG 2005) in Form der Berechtigung zur Weitergabe erhöhter Bezugskosten besteht. Danach durften die Versorger weiterhin Preiserhöhungen vornehmen, wenn sie denn ihre Bezugskosten entsprechend erhöht darstellen können und die Verbraucher müssen die Zeitpunkte erahnen, wann Preissenkungen erforderlich gewesen wären, wenn Ihnen die Versorger nicht einen Brief schicken und ihnen die Kostensenkungen mitteilen.

Was ist an dieser Regelung "transparent"? Wie ist es möglich, dass ein deutsches Bundesgericht eine unwirksame Preisänderungsregelung gegen eine identische "im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung" anordnet?

Nennt man das "Rechtsfortbildung" oder brauchen wir für die Richter des VIII. Zivilsenats "Richterfortbildung"?

Titel: Re: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: RR-E-ft am 03. November 2015, 10:38:18
Das Urteil ist veröffentlicht:

http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=72696&pos=10&anz=470
Titel: Re: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: tangocharly am 05. November 2015, 17:52:33
Nachdem § 4 Abs. 2 AVB nicht zur Preisänderung heran gezogen werden kann, hat der 8.ZS-BGH des "Trudels Kern" mit einer ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 133, 157, 242 BGB) gefunden.
Da es sich hierbei um bindende Normen handelt, greifen die Gas-/Stromrichtlinien auch hierauf ein. Diese Normen sind nicht auszulegen. Vielmehr zwingen sie zur Auslegung, in diesem Fall von Willenserklärungen und Verträgen nach Treu und Glauben.
In vorstehender Entscheidung (ebenso in der Parallelsache vom 28.10.2015) hat der BGH eine planwidrige Regelungslücke erkannt (weil § 4 Abs. 2 AVB zur Preisanpassung nicht europakonform ausgelegt werden können) und ein dadurch abgehängtes Interesse, d.h. der Versorger an Kostenweitergabe.
Bei seinem Rückgriff auf die ergänzende Vertragsauslegung (§§ 133, 157, 242 BGB) spielen aber -nach Ansicht des 8.ZS-BGH- die Transparenzanforderungen der Richtlinien keine Rolle. Wenn man aber die Urteilsgründe liest, dann reibt man sich bei Tz. 43 f. die Augen:
Zitat
43
Art. 20 Abs. 2 GG, der dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck
verleiht, verwehrt es den Gerichten, Befugnisse zu beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen. Der Rechtsfortbildung sind deshalb mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG) Grenzen gesetzt.

44
 Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
gleichermaßen und unabhängig davon, ob das anzuwendende einfache nationale Recht der Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union dient oder nicht. Dem steht nicht entgegen, dass der aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgende Grundsatz der Unionstreue alle mitgliedstaatlichen Stellen, also auch Gerichte, dazu verpflichtet, diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen, die
dem Inhalt einer EU-Richtlinie in der ihr vom Gerichtshof gegebenen Auslegung
entspricht. Denn die unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung
verpflichtet das nationale Gericht zwar, durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden ein richtlinienkonformes Ergebnis zu erzielen. Allerdings findet die Pflicht zur Verwirklichung des Richtlinienziels im Auslegungswege zugleich ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte beurteilen.
Sowohl die Identifizierung als auch die Wahrnehmung methodischer Spielräume des nationalen Rechts obliegt - auch bei durch Richtlinien determiniertem nationalem Recht - den nationalen Stellen in den Grenzen des Verfassungsrechts (BVerfG, NJW 2012, aaO mwN).

45
 (3) Dementsprechend hat auch der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass eine richtlinienkonforme Auslegung - ebenso wie die verfassungskonforme Auslegung - voraussetzt, dass durch eine solche Auslegung der erkennbare Wille des Gesetz- oder Verordnungsgebers nicht verändert wird, sondern die Auslegung seinem Willen (noch) entspricht (vgl. Senatsurteile vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, aaO Rn. 28; vom 17. Oktober 2012 - VIII ZR 226/11, BGHZ 195, 135 Rn. 22; BGH, Beschluss vom 16. Mai 2013 - II ZB 7/11, NJW 2013, 2674 Rn. 42; vgl. auch Senatsurteil vom 13. April 2011 - VIII ZR 220/10, BGHZ 189, 196 Rn. 47; BGH, Beschluss vom 16. April 2015 - I ZR 130/13, aaO; ebenso BAGE 82, 211, 225 f.; 106, 252, 261; jeweils mwN).
Aha, muss der Bürger jetzt feststellen, wenn die ergänzende Vertragsauslegung (s.o.) bindend, d.h. gesetzlich, nur nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgerichtet werden muß, dann entspricht es nicht dem Willen des (nationalen) Gesetzgebers, eine ergänzende Vertragsauslegung an den europarechtlichen Vorgaben der Richtlinien auszurichten.
Warum ? Weil dann, wenn der Gesetzgeber dies gewollt hätte, dann hätte er dies in die Norm (§ 157 BGB) ja auch hinein geschrieben. Hat er aber nicht. Er hat es dort nicht einmal angedeutet. Oder aber, apropos angedeutet, steckt denn vielleicht in dem Grundsatz von Treu und Glauben drin, dass der Bürger darauf vertrauen darf, dass sein Gesetzgeber wenigstens willens und bereit ist, d.h. grundsätzlich, europäische Richtlinien unionskonform umzusetzen. Dann könnte man ja schon auf die Idee kommen, dass der Gesetzgeber gemeint hat, dass in dem dicken großen Sack der Grundsätze von Treu und Glauben auch ein Päckchen europäisches Transparenzgebot steckt.
Leider hat der 8. Zs-BGH dies so nicht gesehen und stand sogleich vor der Wand der Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung. Er hätte ja vielleicht schon das europarechtliche Transparenzgebot in seine "ergänzende Vertragsauslegung" einfließen lassen, wenn der Senat doch eben nicht, weil die bindenden Normen schweigen (§ 157 BGB), so seine Zweifel  hatte. Sonst hätte sich der 8.ZS-BGH am Ende noch schelten lassen müssen (d.h. von den Versorgern), dass er sich zum Gesetzgeberstellvertreter aufgeschwungen hätte.
Mann oh Mann, war das eine schwere Aufgabe für den BGH, diesen Sack der Grundsätze von Treu und Glauben zu heben. Nicht umsonst hat er dazu, für seine Begründung immerhin -44- Seiten gebraucht   :'(
Titel: Re: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: DieAdmin am 29. Februar 2016, 15:32:29
Kommentar Prof. Markert

Zitat
Fazit

Die europarechtlichen Transparenzerfordernisse sind für die in der deutschen Strom- und Gasversorgung praktizierten Preisanpassungsrechte der Versorger gegenüber Verbrauchern im Sonderkundenbereich durch das EuGH-Urteil vom 21.3.2013 und für die Tarifkunden- und Grundversorgung durch das EuGH-Urteil vom 23.10.2014 mittels Auslegung der einschlägigen EU-Richtlinien präzisiert worden. Diese Vorgaben hat der VIII. Zivilsenat des BGH mit seinem Urteil vom 31.7.2013 im Fall RWE Vertrieb für den Sonderkundenbereich und mit seinen Urteilen vom 28.10.2015 für die Tarifkunden und Grundversorgung zwar verbal umgesetzt, indem er seine bis dahin angewendete Leitbildrechtsprechung und das aus den genannten AVBV- und GVV-Vorschriften gefolgerte gesetzliche Anpassungsrecht rückwirkend zum Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist für die Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas am 1.7.2004 kassierte. Tatsächlich hat er aber im Ergebnis mit der Zauberformel der ergänzenden Vertragsauslegung die Vorgaben des EuGH für die Sonderkundenverträge durch seine Fristenlösung teilweise und für die Tarifkunden- und Grundversorgung durch das neu geschaffene vertragliche Anpassungsrecht sogar gänzlich unterlaufen. Da angesichts seiner insoweit durch eine größere Zahl einschlägiger Urteile inzwischen bereits als gefestigt anzusehenden Rechtsprechung nicht zu erwarten ist, dass er selbst wegen der daran auf der Hand liegenden Zweifel an der Europarechtskonformität seiner Verpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH nachkommen wird, verbleibt zur Lösung des Konflikts mit dem Europarecht nur der in der Sache VIII ZR 13/12 bereits beschrittene Weg der Verfassungsbeschwerde wegen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und außerdem die Hoffnung, dass sich ein Instanzgericht bereit findet, dem Beispiel des OLG Oldenburg von 2010 zu folgen und von seinem Recht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV Gebrauch macht. seinerseits den EuGH anzurufen. Der Streit über die Europarechtskonformität der vom VIII. Zivilsenat des BGH kreierten ergänzenden Vertragsauslegung für das Preisanpassungsrecht der deutschen Strom- und Gasversorger ist folglich noch nicht beendet.
Titel: Re: BGH, Urt. v. 28.10.15 VIII ZR 13/12 Gas-Tarifkunden nach EuGH- Entscheidung
Beitrag von: energienetz am 17. März 2016, 12:45:30
Professor Dr. Karl Riesenhuber kommentiert das BGH-Urteil äußerst kritisch in LMK 2016, Beck-Online. Zitat aus seinem Kommentar:

(...) Ein Preisanpassungsrecht begründet das Gericht aber, viertens, im Wege der „ergänzenden Vertragsauslegung“ (Rn. 66-88). Infolge der EuGH-Entscheidung käme § 4 I und II AVBGasV „nicht (mehr) als Rechtsgrundlage eines Preisänderungsrechts des Gasversorgers in Betracht“. Da die AVBGasV Bestandteil des Vertrags der Parteien sind, führe die „Verordnungslücke“ zugleich zu einer „unbeabsichtigten Unvollständigkeit des Vertrags in einem wesentlichen Punkt“. Diese sei nach dem „mutmaßlichen Parteiwillen“ und nach Treu und Glauben durch ein Preisanpassungsrecht wegen Bezugspreisänderungen zu schließen. Ein entsprechendes Interesse des Versorgungsunternehmens sei sowohl vom nationalen als auch vom Unionsgesetzgeber anerkannt. Das Preisanpassungsrecht entspreche der Zielsetzung des Energiewirtschaftsrechts der europäischen Union und des nationalen Energiewirtschaftsrechts.

Das Ergebnis der Entscheidung leuchtet ein und die Begründung für die ergänzende Vertragsauslegung entspricht einer sorgsamen Interessenabwägung. Die Begründung leidet indes an zwei inneren Widersprüchen. Erstens verkennt der Senat, dass es ein Akt der Auslegung oder Rechtsfortbildung ist, an dem bisher anerkannten Preisänderungsrecht des § 4 I und II AVBGasV nicht mehr festzuhalten und versäumt daher zu prüfen, ob diese richtlinienkonformen Rechtsfindung zulässig ist. Und zweitens begründet er unter dem Mantel der „ergänzenden Vertragsauslegung“, was er sich zunächst scheinbar versagt. Zudem hat der Senat nicht reflektiert, was die Richtlinienvorgaben für eine in den Vertrag inkorporierte Gesetzesvorschrift bedeuten.

Über das bisherige Preisänderungsrecht, das der Senat (in ständiger Rechtsprechung!) § 4 I und II AVBGasV im Wege der Auslegung entnommen hat, setzt er sich jetzt mit zwei lapidaren Sätzen und ohne jede Begründung hinweg: Daran könne nach der Entscheidung des EuGH „nicht mehr festgehalten werden“. Was hier methodisch passiert, bleibt völlig unklar. Möglicherweise meint der Senat, hier frei zu sein, da er es war, der das Preisänderungsrecht dem Gesetz (im Wege der Auslegung) „entnommen“ (Rn.21) hat. Indes ist die Bindung an das Gesetz nicht deswegen schwächer, weil ein Rechtssatz erst im Wege der Auslegung (oder Rechtsfortbildung) begründet ist. Wenn der Senat von dieser Auslegung nun abrücken möchte, so ist das ebenfalls als Auslegung oder Rechtsfortbildung begründungsbedürftig. Es liegt auf der Hand, dass diese „Begründung des Gegenteils“ schwer fällt, zumal der Senat später – sub specie „ergänzende Vertragsauslegung“ – auf die auch nach dem Gesetzgeberwillen fundamentale Bedeutung des Preisanpassungsrechts hinweist.

Unklar und unbegründet ist aber auch, inwieweit die Richtlinie überhaupt eine Korrektur erfordert. Der Senat weist (im Zusammenhang mit der „ergänzenden Vertragsauslegung“) selbst darauf hin, dass ein Preisanpassungsrecht von der Zielsetzung des deutschen und des europäischen Energiewirtschaftsrecht her geboten ist (Rn. 79). Und der EuGH hat nicht das Preisanpassungsrecht an sich, sondern nur den Mangel an Transparenz geprüft. Auch wenn das eine mit dem anderen verbunden ist, ist unter diesen Umständen doch nicht eindeutig klar, welche Folgerungen aus der Unvereinbarkeit des Preisanpassungsrechts („ohne Transparenzgebot“) mit den Richtlinienvorgaben zu ziehen sind.

(....)


Die „ergänzende Vertragsauslegung“, mit der der Senat dann doch ein Preisanpassungsrecht begründet, ist seit langem umstritten (dazu zuletzt und überzeugend Neuner, FS Canaris, 2007, 918ff.). Die Entscheidung des BGH bestätigt die Kritik an dem Begründungstopos besonders nachdrücklich. Wer „ergänzt“, legt nicht aus, sondern unter. Der „mutmaßliche Parteiwille“ ist gerade in der vorliegenden Entscheidung ein allzu fadenscheiniges Mäntelchen. Das wird besonders deutlich, wenn sich der Senat zur Begründung auf Erwägungen des deutschen und des Unionsgesetzgebers beruft und nachgerade volkswirtschaftliche Erwägungen anstellt. Natürlich leuchtet es ein, dass ein System der Energiewirtschaft nur dann stimmig funktionieren kann, wenn der Versorgungszwang mit einem Preisanpassungsrecht kombiniert wird. Vertragspartner brauchen sich aber um das Wirtschaftsystem nicht zu kümmern (vgl. Auch Neuner, FS Canaris, 914 f.), ebensowenig um die Tragfähigkeit des Geschäftsplans ihres Partners. Es ficht den einzelnen Vertrag nicht an, wenn die Summe aller Verträge dazu führt, dass der Partner insolvent wird. Jeder darf (in den Grenzen der guten Sitten) „das Letzte“ für sich herausschlagen. Wenn man den Parteien im Übrigen wirklich die Verinnerlichung der (auch europäischen) Energiepolitik andichtet, dann könnte diese doch nicht „halbseitig“ erfolgen, nämlich nur im Hinblick auf das Preisanpassungsrecht und nicht auch im Hinblick auf die damit verbundene verbraucherschützende Transparenz, die Teil des Gesamtpakets ist.

Ist die Ergänzung aber nicht auf den Parteiwillen zurückzuführen, so kann es sich dabei nur um ein Geschöpf des Gerichts handeln – eben um richterliche Rechtsfortbildung. Sofern es dafür keine spezifische Grundlage gibt, kann sie nur auf § 242 BGB gestützt werden (auf den sich der BGH ja letztlich auch beruft). Damit erweist sich aber, dass der BGH der selbst gestellten Falle nicht entweichen kann: Wenn man – auch bei Erwägung der übersehenen Frage – dabei bleibt, dass das Preisanpassungsrecht nach § 4 Abs. I und II AVBGasV nach der EuGH-Entscheidung richtlinienkonform zu derogieren ist, dann kann man es nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung (hier kaschiert als „ergänzende Vertragsauslegung“) sogleich wieder begründen.

Neuner, FS Canaris, 916 ff. hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die korrekte Verortung der Vertragsergänzung als Rechtsfortbildung (oder im Einzelfall auch als „echte“ Vertragsauslegung) nicht zuletzt mit Blick auf den Rechtsschutz – im Instanzenzug und gegen Grundrechtseingriffe – von Bedeutung ist. Hier sehen wir, dass dem eine weitere, europarechtliche Dimension hinzuzufügen ist. Wenn es im Einzelfall um Vertragsauslegung geht (was hier ersichtlich nicht der Fall ist), kommen die Richtliniengebote grundsätzlich nicht zum Tragen; es gibt keine horizontale Direktwirkung. Geht es aber, wie bei uns, um eine Vertragsergänzung, so ist die Rechtsprechung gehalten, die Richtliniengebote mit ihrem Handwerkszeug zu verwirklichen.

Immerhin anzudeuten ist, daran anschließend, noch ein weiterer Gedanke. Wenn Vertragsparteien eine Rechtsvorschrift in ihren Vertrag einbeziehen, die sich nachträglich als europarechtswidrig erweist, so ist zu prüfen, was genau mit der Einbeziehung gewollt war (§§ 133, 157 BGB). Ging es den Parteien um die Regelung als Gesetz (so wohl regelmäßig bei einer dynamischen Verweisung) oder um ihren sachlichen Gehalt (so wohl regelmäßig bei einer statischen Verweisung). Nur im ersten Fall kann die Unwirksamkeit des Gesetzes auch zu einer Vertragslücke führen. Und selbst das ist nicht zwingend. Jedenfalls kann man nicht ohne weiteres annehmen, dass die Vertragsparteien mit der Norm auch das gesamte darin enthaltene genetische Programm, die verfassungs- und unionsrechtlichen Voraussetzungen, mit aufnehmen wollten. Wiederum illustriert der vorliegende Fall die Problematik, da der BGH (sogar unter Berufung auf den „mutmaßlichen Parteiwillen“!) davon ausgeht, dass die Parteien just das wollten, was europarechtlich nicht geht, nämlich ein Preisanpassungsrecht ohne Transparenzgebot.

3. Praktische Folgen

Für uns standen Methodenfragen und nicht die praktischen Folgen im Vordergrund. Im (vielleicht auch gewünschten, rechtspolitisch durchaus überzeugenden) Ergebnis bleicht es (im vorliegenden Fall) bei dem unionsrechtswidrigen Preisanpassungsrecht ohne Beachtung der richtliniendeterminierten Transparenzanforderungen. Die Begründung überzeugt indes nicht. Die Derogation des vorbestehenden Preisanpassungsrechts wäre näher zu erläutern und möglicherweise abzulehnen gewesen. Und auch die vorgebliche „ergänzende Vertragsauslegung“ erweist sich als Rechtsfortbildung und hätte daher die Richtliniengebote berücksichtigen müssen.

Professor Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J., ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels-und Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum und Richter am OLG Hamm.