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OLG Bremen Beschl. v. 19.5.2017 – 2 U 115/16, BeckRS 2017, 110324 -EuGH Vorlage

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uwes:

--- Zitat von: tangocharly am 27. Juni 2017, 21:46:20 ---Es wäre ja schon etwas hilfreicher geworden, wenn sich das OLG Bremen mit  den Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Preisänderung nach Maßgabe der Anlage A der Richtlinie Gasrichtlinie 2003/55/EG intensiver befaßt hätte.
--- Ende Zitat ---

Der 2. Zivilsenat hat es in der Kürze mit der Fragestellung geschafft, genau diese Frage dem EuGH vorzulegen.
Der Senat hat festgestellt, dass die geforderten brieflichen Informationen vom Versorger nicht den Kunden übermittelt wurde. Wie so häufig hat sich das EVU mit den amtlichen Bekanntmachungen begnügt. Er hat weiter die Frage aufgeworfen, dass diese Informationen entweder für die Wirksamkeit von Preisanpassungen erforderlich sind oder aber "nur" einen Schadenersatzanspruch bei Nichtbeachtung nach sich zögen. Welche dier beiden Rechtsfolgen  anzunehmen ist, soll der EuGH ja gerade entscheiden.


--- Zitat von: tangocharly am 27. Juni 2017, 21:46:20 ---Denn der BGH hat am 28.10.2015 ja gemeint, dass er in den Fällen vor 2014 auf den Willen des Verordnungsgebers Rücksicht zu nehmen hätte, welcher in den Regelungen der GasGVV a.F. (2006) zum Ausdruck gebracht habe, keine weiteren Transparenzanforderungen als Wirksamkeitsvoraussetzungen für eine Preisänderung vorsehen zu wollen.

Sollte der EuGH später dann die Auffassung des OLG Bremen teilen, also positiv entscheiden, dann könnte sich der BGH, sofern gegen die Entscheidung des OLG Bremen Revision eingelegt würde, wieder auf diesen Willen des Verordnungsgebers zurück ziehen und die Lösung des Problems fällt in sich zusammen.
--- Ende Zitat ---

Der BGH hat mit seiner phantasievollen versorgerschützenden Entscheidung nicht alle Juristen überzeugen können. Dafür erschien sie doch allzusehr systemwidrig zu sein.
Das OLG sieht die Sache anders und prüft zunächst einmal folgerichtig, ob die Wirksamkeit von Preiserhöhungen - übrigens völlig unabhängig von AGB oder von Berechtigungen nach AVBGasV oder GasGVV - von einer wesentlichen Vorfrage abhängt: Nämlich der Frage, ob für jede Preiserhöhung die Erfüllung der Informationspflichten  zwingende Voraussetzung ist. Auf die Frage, ob eine Preiserhöhung aus betriebswirtschaftlichen Gründen gerechtfertigt sein und auf welcher gesetzlichen oder vertraglichen Grundlage sie erfolgen kann, kommt es danach erst dann an, wenn die Informationspflichten erfüllt sind.


--- Zitat von: tangocharly am 27. Juni 2017, 21:46:20 ---Dass das alte Recht der GasGVV 2006 weiter gilt, ergibt sich aus § 115 EnWG nicht, sondern nur für die bis 6 Monate nach Inkrafttreten der GasGVV 2014 abgeschlossenen (beendeten) Verträge.
--- Ende Zitat ---

In dem zu entscheidenden Fall geht es um Preiserhöhungen vor 2014.


--- Zitat von: tangocharly am 27. Juni 2017, 21:46:20 ---Dieser Fall tritt aber in all den Fällen nicht ein, in denen die Verbraucher in der Vergangenheit wirksam Preisänderungen der Versorger widersprochen hatten und damit die Verbindlichkeit der geforderten Energieentgelte nicht festgestellt werden konnte (§ 315 Abs. 3, S. 1 BGB).
--- Ende Zitat ---

Ich sehe das systemnbedingt anders. Ist die Erfüllung der Informationspflichten als Vorfrage Voraussetzung für die Durchführung von Preisänderungen, bedarf es erst dann eines Kundenwiderspruches, wenn sie erfüllt sind und die angekündigte Preisänderung auch erfolgt ist.
Man braucht keine weiteren Voraussetzungen für die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit von Preisanpassungen, als die der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit. Die Pflicht zur Information über Anlass, Gründe, Zeitpunkt und Erforderlichkeit sowie Kündigungsrechte der Verbraucher dient allein dazu, die gewünschte Voraussetzung für Preisanpassungen überhaupt zu schaffen.
Denkt man weiter über diese Folge nach, so gelangt man zwanglos zu dem Ergebnis, dass der Kundenwiderspruch erst anlässlich einer Preiserhöhung erforderlich ist;  die Informationspfichten als "Wirksamkeitsvoraussetzung" also bereits erfüllt wurden. Ohne Information ist eine Preisänderung nicht möglich. Unabhängig von den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten. Das zeigen die Überlegungen des Gerichts recht deutlich. Zu klären ist nur die Frage, ob die Info-Pflichten der RiLi 2003/55/EG Wirksamkeitsvoraussetzungen darstellen oder nicht.


--- Zitat von: tangocharly am 27. Juni 2017, 21:46:20 ---Wenn Abrechnungsperioden vor 2014 also an der geänderten Rechtslage (GasGVV 2014) gemessen werden müssen, dann kommt es hierbei aus verfassungsrechtlichen Gründen auf eine Abwägung der Interessenlagen an.
--- Ende Zitat ---

Das passiert hier nicht.



energienetz:
Prof. Kurt Markert hat den Vorlagebeschluss in der Zeitschrift EnWZ von Juli 2017 kommentiert. Wir zitieren daraus:

Durch die Vorlage des OLG Bremen auf den europarechtlichen Prüfstand des EuGH gestellt ist die Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des BGH, mit der er auf das die Preisanpassung in der Tarifkunden- und Grundversorgung betreffende EuGH-Urteil vom 23.10.2014  reagiert hat. In diesem auf zwei Vorlagen des Senats  ergangenen Urteil hat der EuGH entschieden, dass Art. 3 Abs. 3 der EU-Stromrichtlinie 2003  und Art. 3 Abs. 5 der EU-Gasrichtlinie 2003  jeweils in Verbindung mit Anhang A so auszulegen sind, dass bei den unter die allgemeine Versorgungspflicht fallenden Verträgen mit  Verbrauchern diese bei Änderungen der Tarife (Preise) rechtzeitig vor deren Inkrafttreten auch über Anlass, Voraussetzungen und Umfang der jeweiligen Änderung informiert werden müssen.  Der EuGH widersprach damit der vom Senat in seinen Vorlagen vertretenen Ansicht, dass es zur Erfüllung der Transparenzanforderungen dieser Richtlinienvorschriften ausreiche, wenn der Versorger seinen Kunden beabsichtigte Preisanpassungen in angemessener Frist vorab mitteilt und die Kunden berechtigt sind, sich durch Kündigung vor dem Wirksamwerden der Änderung vom Vertrag zu lösen, wenn sie diese nicht akzeptieren wollen.

In den Urteilen vom 28.10.2015  und einer Reihe weiterer Urteile als Reaktion auf das EuGH-Urteil vom 23.10.2014 hat der Senat zunächst eine richtlinienkonforme Auslegung des § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV mit der Folge, dass die vom EuGH formulierten europarechtlichen Transparenzanforderungen in den Verordnungstext quasi „hineingelesen“ würden, ebenso abgelehnt  wie die direkte Anwendung der diese Anforderungen enthaltenden Richtlinienvorschriften.  Statt dessen hat er entschieden, dass wegen Unvereinbarkeit mit diesen Anforderungen aus § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV ein gesetzliches Anpassungsrecht rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist für die EU-Gasrichtlinie 2003 am 1.7.2004 nicht mehr entnommen werden kann.  Die danach naheliegende Folgerung aus der Tatsache, dass in den vom Senat entschiedenen Fällen im jeweils maßgeblichen Zeitraum die erforderliche rechtzeitige Vorabinformation der Kunden über Anlass, Voraussetzungen und Umfang der streitigen Preisanpassungen unterblieben war, diese Anpassungen deshalb wegen ihrer Europarechtswidrigkeit abschließend („unheilbar“) für die Kunden unverbindlich (unwirksam) sind, hat der Senat jedoch nicht gezogen. Vielmehr hat er das von ihm kassierte gesetzliche Anpassungsrecht mit einer ergänzenden Vertragsauslegung durch ein inhaltsgleiches vertragliches Anpassungsrecht ersetzt.  Danach ist der Versorger berechtigt, Steigerungen seiner eigenen (Bezugs-)Kosten, soweit sie nicht durch Kostensenkungen in anderen Bereichen ausgeglichen werden, an die Kunden mit der Maßgabe weiterzugeben, dass bei einer Anpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen sind wie Kostenerhöhungen. Ein danach erhöhter Tarif oder Preis gilt nach dieser Rechtsprechung als von den Vertragsparteien vereinbart und damit der Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB entzogen.

(...) Bis zur Entscheidung des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV dauert es in aller Regel eineinhalb bis zwei Jahre. Nach den beiden Vorlagen des VIII. Zivilsenats des BGH zum Preisanpassungsrecht der Tarifkunden- und Grundversorger  hat der Senat im Hinblick darauf alle späteren einschlägigen Verfahren nach § 148 ZPO analog vorerst ausgesetzt.  Dies empfiehlt sich auch für die Verfahren der Instanzgerichte. Soweit über Zahlungsansprüche von Versorgern und Rückzahlungsansprüche von Kunden nach der Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des BGH bereits rechtskräftig entschieden wurde, müssen sich die davon betroffenen Kunden allerdings damit abfinden.  Aus dem zu erwartenden Urteil des EuGH zur Vorlage des OLG Bremen könnte auch ersichtlich sein, ob die in § 5 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StromGVV/Gas GVV n. F. normierte Verpflichtung der Versorger, die Kunden über Anlass, Voraussetzungen und Umfang beabsichtigter Preisanpassungen rechtzeitig vorab zu informieren, ebenfalls eine mit einer ergänzenden Vertragsauslegung nicht „heilbare“ Wirksamkeitsvoraussetzung für diese Anpassungen ist. 

uwes:
Das Oberlandesgericht Bremen hält es rechtlich für möglich, dass die nach der RiLi 55/2003/EG erforderlichen Kundeninformationen

„Wirksamkeitsvoraussetzung“

für jede Preiserhöhung sind. Deswegen hat es die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Rechtlich hätte dieser Umstand zur Folge, dass es eines Widerspruches des Kunden gegen eine Preiserhöhung nicht bedurfte, da eine Preisanpassung nach den vom BGH aufgestellten Regeln der „Vertragsergänzung“ gem OLG Bremen erst vorgenommen werden durfte, wenn die Informationspflichten erfüllt waren. Hat das staatliche EVU die nach der RiLi erforderliche Informationen nicht erteilt, ist die erste Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Preisanpassung schon nicht gegeben. Sie konnte auch durch Schweigen des Kunden nicht fingiert werden. Damit könnte es nach dieser Ansicht nicht einmal mehr darauf ankommen, ob die Preisanpassungen überhaupt betriebswirtschaftlich notwendig waren.

uwes:
Die klagenden Stadtwerke haben die Berufung zum hanseatischen oberlandesgericht zwischenzeitlich zurückgenommen. Somit ist das landgerichtliche Urteil rechtskräftig. https://forum.energienetz.de/index.php/topic,20202.msg117179.html#msg117179

Damit haben die Stadtwerke letztlich verhindert, dass der EuGH zur Vorlagefrage des 2. Zivilsenats Stellung beziehen müsste.

energienetz:
Energieversorger kneifen vor dem EuGH

Die Stadtwerke Delmenhorst ziehen Berufung vor europarechtlicher Entscheidung zurück

(21. Dezember 2017) Die Stadtwerke Delmenhorst verklagten einen Verbraucher auf Zahlung von 5.300 Euro. Um diesen Betrag hatte der Verbraucher seine Rechnung in den Jahren von 2005 bis 2012 gekürzt, weil die Preiserhöhungen nicht den Anforderungen des europäischen Verbraucherschutzes entsprachen. Rund 100 andere Verbraucher, die ebenfalls die Gasrechnung jahrelang gekürzt hatten, einigten sich außergerichtlich mit dem Versorger.

Vor dem Landgericht Bremen wurde die Klage der Stadtwerke Delmenhorst zunächst vollumfänglich abgewiesen, weil die Stadtwerke ihrer „Darlegungslast hinsichtlich sämtlicher Preiserhöhungen nicht im Ansatz nachgekommen ist“. (Urteil vom 2.9.2016 Az. 3 O 1712/11, bdev.de/lgbremen). Die Stadtwerke legten dagegen Berufung ein. Das Oberlandesgericht Bremen fragte daraufhin den europäischen Gerichtshof (EuGH), ob die europäischen Verbraucherschutzrichtlinien direkte Gültigkeit in Deutschland entfalten (Beschluss vom 19.5.2017, Az. 2 U 115/16; EuGH Az. C-309/17). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) wären die Preiserhöhungen zulässig gewesen. Der BGH hatte sich zuvor mit seiner versorgerfreundlichen Rechtsprechung über ein Urteil des EuGH vom 23.10.2014 hinweggesetzt. Deshalb hat der Fall erhebliche rechtliche Brisanz (siehe bdev.de/eugh).

Nun haben die Stadtwerke Delmenhorst die Berufung überraschend zurückgezogen. Damit erlangt das erstinstanzliche Urteil Rechtskraft. Der Versorger hat also keinen Anspruch auf die Zahlung der gekürzten Rechnungsbeträge. Die Versorger haben offenbar so viel Angst vor dem Urteil des EuGH, dass sie lieber einen Streit verloren geben, als das Risiko eines Urteils des EuGH einzugehen. Es geht darum, ob die Preiserhöhungen dem Verbraucher brieflich mitgeteilt und ausreichend begründet worden ist mit Hinweis auf das Kündigungsrecht des Verbrauchers.

Der betroffene Verbraucher kann sich freuen. Die anderen Verbraucher, die sich auf einen Vergleich eingelassen hatten, profitieren davon nicht mehr. Auch hatte das Amtsgericht Delmenhorst in vielen ähnlichen Fällen dem Versorger Recht gegeben und die Verbraucher mussten die gekürzten Beträge nachzahlen. Auch diese Urteile, in denen wegen eines Streitwertes unter 600 Euro keine Berufung möglich war, behalten Gültigkeit.

Offenbar scheuen die Versorger ein Urteil des EuGH in dieser Sache. Betroffene Verbraucher sollten sich diesen Umstand zunutze machen und auf die direkte Wirkung des europäischen Rechts zu ihren Gunsten hinweisen.

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