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Autor Thema: EuGH, Urteil vom 21.12.2016 – C-154/15, C-307/15 und C-308/15  (Gelesen 11146 mal)

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Offline energienetz

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EuGH, Urteil vom 21.12.2016 – C-154/15, C-307/15 und C-308/15 – „Gutiérrez u. a. gegen Cajasur Banco u. a.“, BeckRS 2016, 109822.

Stellungnahme von Prof. Dr. Kurt Markert


Für das deutsche AGB-Recht, soweit durch die Rechtsprechung bei nach der EU-Klausel-Richtlinie RL 93/13 missbräuchlichen AGB-Klauseln in Verbraucherverträgen die Restitutionswirkungen mit einer ergänzenden Vertragsauslegung über die Grenzen der Verjährung und Verwirkung hinaus zulasten der Verbraucher beschränkt werden, ergeben sich aus dem Urteil einschneidende Folgen. Lies sich nach dem EuGH-Urteil vom 14.6.2012 noch argumentieren, dass für die Vereinbarkeit dieser Rechtsprechung mit Art. 6 Abs. 1 RL 93/13 „gute Gründe“ sprächen (so Pfeiffer, LMK 2012, 339740, S. 3, und NJW 2014, 3069, 3072), ist dem durch das EuGH-Urteil vom 21.12.2016 die Grundlage entzogen worden. Dies gilt insb. auch für die vom VIII. Zivilsenat des BGH  für intransparente Preisanpassungsklauseln in Sonderkundenverträgen mit Strom- und Gasverbrauchern entwickelte „Dreijahreslösung“ (zuletzt Urt. v. 5.10.2016. VIII ZR 241/15). Denn sie beschränkt die Restitutionswirkung solcher Klauseln in zweifacher Hinsicht: für die mehr als drei Jahre zurückliegende Zeit vor der ersten Beanstandung des Kunden nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung völlig und für die Zeit danach in Höhe der Differenz zwischen dem Anfangspreis bei Vertragsabschluss und dem bei der ersten Kundenbeanstandung geltenden höheren Preis. Die Begründung des Senats, die Vereinbarkeit seiner „Dreijahreslösung“ mit Art. 6 Abs. 1 RL 93/13 sei ein jeden vernünftigen Zweifel ausschließender „acte clair“, ist jedenfalls nach dem EuGH-Urteil vom 21.12.2016 absolut unhaltbar geworden; die darauf basierende Rechtsprechung muss deshalb aufgegeben werden (zur Kritik bereits eingehend: Markert, EnWZ 2016, 195, 196 ff. und 362 ff.). Die zahlreichen Fälle, in denen auf der Grundlage der „Dreijahreslösung“ die Restitutionswirkung missbräuchlicher Preisanpassungsklauseln zulasten der Kunden bereits rechtskräftig beschränkt wurde, sind allerdings auch nach dem EuGH-Urteil vom 21.12.2016 nicht mehr angreifbar.

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Re: EuGH, Urteil vom 21.12.2016 – C-154/15, C-307/15 und C-308/15
« Antwort #1 am: 30. März 2017, 10:50:57 »
Dieses Urteil ist sehr relevant für den BGH, nachzulesen hier http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=186483&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1
Aus dem Urteilstext:

53  Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sehen die Mitgliedstaaten vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest.

54      Diese Bestimmung ist als eine Norm zu betrachten, die den im nationalen Recht zwingenden innerstaatlichen Bestimmungen gleichwertig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2013, Asbeek Brusse und de Man Garabito, C‑488/11, EU:C:2013:341, Rn. 44).

55      Außerdem handelt es sich um eine zwingende Bestimmung, die darauf abzielt, die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen (Urteil vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 63).

56      Aufgrund von Art und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der Schutz beruht, der den Verbrauchern gewährt wird, weil sie sich gegenüber den Gewerbetreibenden in einer Position der Unterlegenheit befinden, verpflichtet die Richtlinie 93/13, wie sich aus ihrem Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem 24. Erwägungsgrund ergibt, die Mitgliedstaaten, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, „damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird“ (Urteil vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai, C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 78).

57      Um das zu erreichen, hat das nationale Gericht eine missbräuchliche Vertragsklausel schlicht unangewendet zu lassen, damit sie den Verbraucher nicht bindet, ohne dass es befugt wäre, deren Inhalt abzuändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 65).

58      In diesem Zusammenhang muss das nationale Gericht zum einen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt, von Amts wegen prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt.

59      Für die volle Effektivität des von der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Schutzes ist es nämlich erforderlich, dass das nationale Gericht, das von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt hat, alle Konsequenzen aus dieser Feststellung ziehen kann, ohne abwarten zu müssen, dass der Verbraucher nach dem Hinweis auf seine Rechte erklärt, dass er die Nichtigerklärung dieser Klausel begehrt (Urteil vom 30. Mai 2013, Jőrös, C‑397/11, EU:C:2013:340, Rn. 42).

60      Zum anderen ist das nationale Gericht nicht befugt, den Inhalt missbräuchlicher Klauseln abzuändern, da sonst dazu beigetragen würde, den Abschreckungseffekt zu beseitigen, der für die Gewerbetreibenden darin besteht, dass solche missbräuchlichen Klauseln gegenüber dem Verbraucher schlicht unangewendet bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2015, Unicaja Banco und Caixabank, C‑482/13, C‑484/13, C‑485/13 und C‑487/13, EU:C:2015:21, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass eine für missbräuchlich erklärte Vertragsklausel grundsätzlich als von Anfang an nicht existent anzusehen ist, so dass sie gegenüber dem Verbraucher keine Wirkungen haben kann. Folglich muss die gerichtliche Feststellung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel grundsätzlich dazu führen, dass die Sach- und Rechtslage wiederhergestellt wird, in der sich der Verbraucher ohne diese Klausel befunden hätte.

62      Demnach entfaltet die Verpflichtung des nationalen Gerichts, eine missbräuchliche Vertragsklausel, nach der Beträge zu zahlen sind, die sich als rechtsgrundlos herausstellen, für nichtig zu erklären, im Hinblick auf diese Beträge grundsätzlich Restitutionswirkung.

63      Ohne diese Restitutionswirkung könnte nämlich der Abschreckungseffekt in Frage gestellt werden, der sich nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit deren Art. 7 Abs. 1 an die Feststellung der Missbräuchlichkeit von Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit Verbrauchern geschlossen hat, knüpfen soll.

64      Zwar verlangt Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 von den Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass missbräuchliche Klauseln für die Verbraucher gemäß den „Bedingungen[, die sie] hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest[legen]“, unverbindlich sind (Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 57).

65      Jedoch kann durch die Einbettung des den Verbrauchern durch die Richtlinie 93/13 gewährten Schutzes in das nationale Recht nicht die Tragweite und folglich das Wesen dieses Schutzes geändert und somit die vom Unionsgesetzgeber ausweislich des zehnten Erwägungsgrundes der Richtlinie 93/13 angestrebte Verbesserung des Schutzes durch die Aufstellung einheitlicher Rechtsvorschriften auf dem Gebiet missbräuchlicher Klauseln in Frage gestellt werden.

66      Folglich obliegt es den Mitgliedstaaten zwar, durch ihr nationales Recht die Bedingungen festzulegen, unter denen die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel erfolgt und die konkreten Rechtswirkungen dieser Feststellung eintreten, doch ändert dies nichts daran, dass eine solche Feststellung die Wiederherstellung der Tatsachen‑ und Rechtslage, in der sich der Verbraucher ohne die missbräuchliche Klausel befände, ermöglichen muss, und zwar insbesondere durch Begründung eines Anspruchs auf Rückgewähr der Vorteile, die der Gewerbetreibende aufgrund der missbräuchlichen Klauseln zulasten des Verbrauchers rechtsgrundlos erhalten hat.

67      Im vorliegenden Fall hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) mit seinem Urteil vom 9. Mai 2013, auf das die vorlegenden Gerichte verweisen, entschieden, dass die Feststellung der Nichtigkeit der betroffenen Mindestzinssatzklauseln weder die Sachverhalte, über die durch rechtskräftige Gerichtsentscheidungen endgültig entschieden worden sei, noch die vor der Verkündung dieses Urteils erfolgten Zahlungen berühre, und dass daher die Wirkungen dieser Feststellung, insbesondere der Anspruch des Verbrauchers auf Rückerstattung, nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit auf die ab diesem Tag rechtsgrundlos gezahlten Beträge beschränkt seien.

68      Insoweit ist zutreffend, dass der Gerichtshof bereits anerkannt hat, dass der Verbraucherschutz nicht absolut ist. Er hat insbesondere festgestellt, dass das Unionsrecht es einem nationalen Gericht nicht gebietet, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß gegen die Richtlinie 93/13 abgestellt werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 37). Somit konnte das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) in seinem Urteil vom 9. Mai 2013 zu Recht entscheiden, dass durch dieses Urteil nicht die Sachverhalte berührt werden, über die durch frühere rechtskräftige Gerichtsentscheidungen endgültig entschieden worden ist.

69      Des Weiteren hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar ist (Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 41).

70      Dennoch ist zwischen der Anwendung einer Verfahrensmodalität wie einer angemessenen Verjährungsfrist und einer zeitlichen Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts zu unterscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2010, Barth, C‑542/08, EU:C:2010:193, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es angesichts des grundlegenden Erfordernisses, dass das Unionsrecht in allen Fällen einheitlich anzuwenden ist, allein Sache des Gerichtshofs ist, darüber zu entscheiden, ob die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung einer solchen Vorschrift in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 1988, Barra u. a., 309/85, EU:C:1988:42, Rn. 13).

71      Daher dürfen die von den nationalen Rechtsordnungen aufgestellten Voraussetzungen, auf die Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verweist, das Recht, an eine missbräuchliche Klausel nicht gebunden zu sein, das den Verbrauchern nach dieser Bestimmung in der Auslegung durch die in den Rn. 54 bis 61 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs zuerkannt wird, nicht in seinem Wesensgehalt beeinträchtigen.

72      Die vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) in seinem Urteil vom 9. Mai 2013 vorgenommene zeitliche Beschränkung der Rechtswirkungen, die sich aus der Feststellung der Nichtigkeit der Mindestzinssatzklauseln ergeben, läuft aber darauf hinaus, generell jedem Verbraucher, der vor diesem Tag einen Hypothekendarlehensvertrag mit einer solchen Klausel geschlossen hat, den Anspruch zu nehmen, eine vollständige Rückerstattung der Beträge zu erhalten, die er aufgrund dieser Klausel vor dem 9. Mai 2013 rechtsgrundlos an das Kreditinstitut gezahlt hat.

73      Folglich kann eine nationale Rechtsprechung, wie sie dem Urteil vom 9. Mai 2013 zu entnehmen ist und die die zeitliche Beschränkung der Rechtswirkungen betrifft, die sich daraus ergeben, dass eine Vertragsklausel nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 für missbräuchlich erklärt wird, nur einen beschränkten Schutz der Verbraucher gewährleisteten, die vor der Verkündung der Entscheidung, mit der die Missbräuchlichkeit gerichtlich festgestellt wurde, einen Hypothekendarlehensvertrag mit einer Mindestzinssatzklausel abgeschlossen hatten. Ein solcher Schutz erweist sich daher als unvollständig und unzureichend und ist entgegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 weder ein angemessenes noch ein wirksames Mittel, um der Verwendung dieser Art von Klauseln ein Ende zu setzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2013, Aziz, C‑415/11, EU:C:2013:164, Rn. 60).

74      Unter diesen Umständen haben die vorlegenden Gerichte – angesichts dessen, dass sie sich bei der Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten an die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof halten müssen – die vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) in seinem Urteil vom 9. Mai 2013 vorgenommene zeitliche Beschränkung der Rechtswirkungen aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt zu lassen, da sie erkennbar nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 29 bis 32, vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33 und 34, vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 36, und vom 8. November 2016, Ognyanov, C‑554/14, EU:C:2016:835, Rn. 67 bis 70).

75      Nach alledem ist Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, die die Restitutionswirkungen, die damit verbunden sind, dass eine Klausel in einem Vertrag, den ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für missbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie erklärt wird, zeitlich auf diejenigen Beträge beschränkt, die auf Grundlage einer solchen Klausel rechtsgrundlos gezahlt wurden, nachdem die Entscheidung mit der gerichtlichen Feststellung der Missbräuchlichkeit verkündet worden war.

 

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