Forum des Bundes der Energieverbraucher

Autor Thema: BGH, Urt. v. 6.4.16 Az. VIII ZR 79/15 Erg. Vertragsauslegung= kundenfreundlich  (Gelesen 11106 mal)

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Die Leitsatzentscheidung BGH, Urt. v. 6.4.16 Az. VIII ZR 79/15 ist veröffentlicht:

http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&nr=75106&pos=17&anz=593

Zitat
BGB § 133 A, § 157 D, § 306, § 307 Cb, § 812, § 818; ZPO § 256; KlauselRL Art. 6; GasRL Anhang A Buchst. b

a)
Die Ersetzung einer missbräuchlichen Klausel durch eine dispositive nationale Vorschrift, wie dies
in  §  306  Abs.  2  BGB  vorgesehen  ist,  steht  mit  Art.  6  Abs. 1  der  Klausel-Richtlinie  93/13/EWG  im Einklang. Sie ermöglicht es dem nationalen Gericht, die durch den Fortfall der Klausel entstandene Lücke  im  Vertrag  jedenfalls  dann  durch  ergänzende  Vertragsauslegung  aufzufüllen,  wenn - wie hier im Falle eines Preisanpassungsrechts -dispositives Gesetzesrecht im Sinne konkreter materiell-rechtlicher Regelungen nicht zur Verfügung steht und das Offenlassen der mit dem Fortfall der Klausel  entstandenen  Lücke  zu  einem  Ergebnis  führte,  das  den  beiderseitigen  Interessen  nicht mehr in vertretbarer Weise Rechnung trüge, sondern das Vertragsgefüge in einer Weise völlig einseitig  zugunsten  des  Kunden  verschöbe,  die  zur  Folge  hätte,  dass  der  Vertrag  ohne  eine  solche Auslegung  gemäß  §  306  Abs.3  BGB  in  seiner  Gesamtheit  keinen  Bestand  mehr  haben  könnte (Bestätigung  und Fortführung  der  Senatsurteile vom 23.Januar  2013 - VIII ZR  80/12, NJW 2013, 991 Rn.35 ff., und VIII ZR 52/12, juris Rn.33 ff.).

b)
Die  in  Energieversorgungsstreitigkeiten  entwickelte  "Dreijahreslösung"  des  Senats  vermeidet  die bei  einer  Gesamtnichtigkeit  des  Versorgungsvertrages  für  den  Kunden  eintretenden  nachteiligen Folgen  einer  bereicherungsrechtlichen  (Rück-)Abwicklung,  indem  sie  entsprechend  den  Zielsetzungen der  Klausel-Richtlinie darauf angelegt ist, die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit  der  Rechte  und  Pflichten  der  Vertragsparteien  unter  Heranziehung  und  Gewichtung ihrer  Interessen  durch  eine  materielle  Ausgewogenheit  zu  ersetzen  und  auf  diese  Weise  ein Gleichgewicht der Rechte und Pflichten tatsächlich wiederherzustellen.

c)
Wird der nach der "Dreijahreslösung" maßgebliche Preis anschließend unterschritten, hat der Kunde für die Zeiträume der Preisunterschreitungen nur die geringeren Entgelte zu entrichten.

BGH, Urteil vom 6. April 2016 -VIII ZR 79/15 -
LG Frankfurt (Oder)
AG Strausberg

Offline energienetz

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Anmerkungen zum Urteil des BGH vom 06.04.2016, III ZR 79/15

Basta-Urteil des 8. Zivilsenates überzeugt nicht

Von Wilhelm Zimmerlin, Bad Kreuznach. Der Autor war von 2004 bis 2009 Mitglied im Aufsichtsrat der Stadtwerke GmbH Bad Kreuznach. Er berät seitdem Endverbraucher bei der Abwehr unberechtigter Preisforderungen von Energieversorgern.

Die Furcht der Richter des 8. Zivilsenates am BGH davor, dass ein Verbraucher bis zum EuGH vordringt und die ergänzende Vertragsauslegung samt Fristenlösung dort auf den Prüfstand kommt, muss groß sein.

In seinem Leitsatzurteil vom 06.04.2016, III ZR 79/15 ist er nun dazu übergegangen, seine Rechtsprechung als alternativlos zum Schutz der Energieverbraucher und in völligem Einklang mit den EU-Verbraucherschutzvorschriften (acte clair) zu deklarieren. Die „vereinzelten“ kritischen Stimmen im Schrifttum übersähen lt. BGH (Rn 25, 26), dass sich die Rechtsprechung des EuGH zweifelsfrei im Sinne des BGH fortentwickelt habe.

Doch die Argumente des BGH überzeugen nicht, auch wenn er eine Reihe von Rechtsquellen anführt, die vermeintlich seine Sichtweise stützen sollen, bei näherem Hinsehen jedoch das Gegenteil belegen. Nachfolgend wird in Kurzform ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgezeigt, in welchen Punkten das Urteil von EU-Verbraucherschutzbestimmungen abweicht und deshalb kein acte clair gegeben ist:

a)   Gesamtnichtigkeit des Vertrages und Rückabwicklung zu Lasten des Verbrauchers (Rn 24, 30-38)

Der BGH meint, als Alternative zu seiner ergänzenden Vertragsauslegung käme einzig die Gesamtnichtigkeit des Vertrages in Betracht. Denn die ersatzlose Streichung der missbräuchlichen Klausel wäre für den betroffenen Versorger nach mehr als einer zehnjährigen Vertragslaufzeit eine unzumutbare Härte.

Abgesehen davon, dass der Verwender missbräuchlicher Preisanpassungsklauseln keinen Vertrauensschutz in sein Preisgebaren beanspruchen kann, ist das Argument der unzumutbaren Härte ist schon deswegen unzutreffend, weil der Versorger bereits aufgrund der Verjährung von Forderungen vor einem übermäßigen wirtschaftlichen Risiko geschützt ist. Im Übrigen ist es gerade der Zweck des Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie 93/13 eine hohe Abschreckungswirkung zu entfalten, um Unternehmen davon abzuhalten, missbräuchliche Klauseln zu verwenden. Wenn ein Klauselverwender also durch Forderungen getroffen wird, dann verwirklicht sich darin eben das selbst verschuldete Missbrauchsrisiko. Ob überhaupt eine Härte vorliegt, ist bei Verwendern von missbräuchlichen Klauseln ohnehin zu bezweifeln. In aller Regel dürften solche Versorger über die Jahre satte Gewinne erzielt haben. Wie unten ausgeführt, steht es den nationalen Gerichten jedenfalls nicht zu, das Missbrauchsrisiko durch eine ergänzende Vertragsauslegung zu minimieren.

Der BGH verkennt zudem, dass die Nichtigkeit des Vertrages nur dann in Frage kommt, wenn dies zum Vorteil des Verbrauchers wäre. Hierzu verhält sich der EuGH in seinem Urteil vom 15.03.2012, C-453/10, Rn 35 unmissverständlich: „Folglich hindert die Richtlinie 93/13 einen Mitgliedstaat nicht daran, im Einklang mit dem Unionsrecht eine nationale Regelung vorzusehen, die es erlaubt, einen Vertrag, den ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat und der eine oder mehrere missbräuchliche Klauseln enthält, in seiner Gesamtheit für nichtig zu erklären, wenn sich erweist, dass dadurch ein besserer Schutz des Verbrauchers gewährleistet wird.“; siehe dazu auch EuGH vom 21.01.2015, C-482/13, Rn 28-33. Einen Vertrag für nichtig zu erklären, ist damit keine Option, die den nationalen Gerichten zur Verfügung steht, wenn dies zu Lasten des Verbrauchers ginge. Es ist nicht nachvollziehbar, wie der BGH zu einer gegenteiligen Auffassung gelangen konnte.

b)   Anerkennung der Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung (Rn 23, 28, 31)

Der BGH meint, der EuGH habe eine Lückenfüllung durch ergänzende Vertragsauslegung unter den beschriebenen Voraussetzungen, nämlich die angeblich ansonsten zwingende Nichtigkeit des Versorgungsvertrages, ausdrücklich anerkannt. Diese Behauptung des BGH ist zu bezweifeln; die vom BGH selbst aufgeführten Erkenntnisquellen sagen etwas anderes.

In allen Entscheidungen des EuGH wird nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Ziel der einschlägigen EU-Verbraucherschutzrichtlinien in der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus zu sehen ist. Auf keinen Fall ist es den nationalen Gerichten erlaubt, die hohe Abschreckungswirkung des Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie 93/13 abzumildern, EuGH vom 21.01.2015, C-482/13 Rn 31, vom 30.04.2014, C-26/13 Rn 79, vom 14.06.2012, C-618/10 Rn 69. Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 8 nur strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten.

Grundsätzlich steht es den nationalen Gerichten daher lediglich zu, eine missbräuchliche Klausel für den Verbraucher gem. Art. 6 Abs. 1 als unverbindlich zu erklären und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Zwar kann eine missbräuchliche Klausel im Ausnahmefall durch eine dispositive nationale Vorschrift ersetzt werden; dies muss aber voll und ganz im Einklang mit der durch Art. 6. Abs. 1 bezweckten hohen Abschreckungswirkung einhergehen.

Wenn also der BGH zwar die Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel entscheidet, zugleich aber seine ergänzende Vertragsauslegung als dispositive nationale Regelung rückwirkend anwenden will, so darf dies nicht zur Folge haben, dass der Verbraucher schlechter gestellt ist im Vergleich zur puren Unverbindlichkeit der missbräuchlichen Klausel. Diese mehrfach vom EuGH bestätigte Bedingung hat der BGH schlichtweg ignoriert, EuGH vom 21.01.2015, C-482/13 Rn 29, 33, vom 30.04.2014, C-26/13, Rn 83, 84, vom 14.06.2012, C-618/10 Rn 72.

Doch genau eine solche Schlechterstelllung des Verbrauchers bewirkt der BGH mit seinem rückwirkenden Konstrukt einer ergänzenden Vertragsauslegung samt Fristenlösung; u.a. weil der Verbraucher zurückliegende Preiserhöhungen, die er nicht rechtzeitig innerhalb einer Dreijahresfrist gerügt hat, gegen sich gelten lassen muss. Es ist offensichtlich, dass im Gegenzug der Verwender der missbräuchlichen Klausel besser gestellt wird. Ihm wachsen nämlich die erhöhten Erlöse zu, die ihm bei der Unverbindlichkeit der missbräuchlichen Klausel nicht zustünden. Dadurch sinkt das Missbrauchsrisiko für den Verwender von missbräuchlichen Klauseln und die hohe Abschreckungswirkung des Art. 6 Abs.1 der Klauselrichtlinie wird konterkariert.

Wenn der BGH meint, im Falle der Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel wieder eine Ausgewogenheit im Vertragsverhältnis herstellen zu müssen, kann er dies nicht rückwirkend anordnen sondern nur für die Zukunft einfordern. So könnte er beispielsweise dem Klauselverwender auferlegen, wirksame Klauseln in den Vertrag zu implementieren. Andernfalls sowie für die Vergangenheit müssen jedoch uneingeschränkt die abschreckenden Konsequenzen gem. Art. 6 Abs. 1 der Klauselrichtlinie gelten.

c)   Unterlassene Preissenkungen (Rn 40)

Nach wie vor schuldet der BGH eine Antwort darauf, wie sich ein Verbraucher gegen missbräuchlich unterlassene Preissenkungen seines Energieversorgers zur Wehr setzen kann. Aus Sicht des Verbrauchers ist die Preisgestaltung unter der Prämisse der vom BGH konstruierten ergänzenden Vertragsauslegung samt Fristenlösung völlig intransparent. Dies wird insbesondere an der Frage offenbar, woher ein Verbraucher wissen soll, ob und wie die Beschaffungskosten seines Versorgers gesunken sind und ab wann sein Versorger zu einer entsprechenden Senkung der Preise verpflichtet gewesen wäre. Diese Intransparenz ist eine Einladung an alle Versorger, ihre Gewinnmargen durch unterlassene oder verzögerte Preissenkungen zu steigern ohne dass betroffene Verbraucher gegen diese missbräuchliche Praxis vorgehen können. Das Konstrukt der ergänzenden Vertragsauslegung samt Fristenlösung des BGH erfüllt keine der in den EU-Richtlinien verankerten Verbraucherschutzkriterien.

Resümee

Auch wenn er es bestreitet, bestehen begründete Zweifel, dass die vom BGH propagierte ergänzende Vertragsauslegung samt Fristenlösung im Einklang mit EU-Recht steht. Das Urteil mutet wie ein Basta-Richterspruch an, verstärkt durch Basta-Leitsätze. Seine Weigerung, die Zweifelsfragen dem EuGH zur Klärung vorzulegen, mag auch mit den aus seiner Sicht schlechten Erfahrungen zusammenhängen. Schon zweimal musste der BGH innerhalb kurzer Zeit seine gefestigte Rechtsprechung revidieren, nachdem ihm der EuGH den richtigen Weg zum Schutz der Energieverbraucher gewiesen hat, EuGH vom 21.03.2013, C-92/11 und vom 23.10.2014, C-359/11, C-400/11. Eine dritte Niederlage kann der BGH wohl nur verhindern, wenn das juristische Match vor dem EuGH erst gar nicht stattfindet. Vor diesem Hintergrund dürfte das Basta-Urteil auch dazu dienen, dem einen oder anderen kritischen Richter in den Instanzen den Schneid abzukaufen. Für die deutschen Energieverbraucher bleibt zum einen die vage Hoffnung, dass es vielleicht doch irgendwo einen couragierten Richter gibt, der von sich aus den EuGH anruft. Zum zweiten ist zu hoffen, dass die inzwischen eingereichten Verfassungsbeschwerden vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen werden.

Offline energienetz

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Prof. Markert kommentiert das Urteil wie folgt (zitiert aus EnWZ 8/2016):

...Wie von mir in dieser Zeitschrift bereits an anderer Stelle  aufgezeigt wurde, ist die Fristenlösung, jedenfalls so wie sie der Senat seit seinem Urteil vom 15.4.2015  begründet, der Sache nach eine nach einhelliger höchstrichterlicher Rechtsprechung unzulässige geltungserhaltende Reduktion der unwirksamen Preisanpassungsklausel. Denn im Ergebnis hält sie das nach § 307 I BGB unwirksame Recht des Versorgers zur einseitigen Preiserhöhung in reduziertem Umfang mit folgendem Inhalt weiter aufrecht:

Der Versorger ist zur einseitigen Preisanpassung unter der Voraussetzung berechtigt, dass sie vom Kunden nicht innerhalb von drei Jahren nach Zugang der sie erstmals berücksichtigenden Jahresabrechnung beanstandet wird, wobei der am Beginn des danach maßgeblichen Dreijahreszeitraums geltende Preis an die Stelle des vereinbarten Anfangspreises bei Vertragsbeginn tritt.  Der Kunde bleibt damit an die unwirksame Preisanpassungsklausel in reduziertem Umfang in zweifacher Hinsicht weiterhin gebunden: er schuldet zum einen die darauf gestützten Preiserhöhungen, soweit sie bereits vor dem Beginn des Dreijahreszeitraums liegen, ohne Einschränkung und zum anderen auch die danach erfolgten Erhöhungen, soweit sie die Grenze des bei Beginn des Dreijahreszeitraums geltenden Preises nicht überschreiten.

....Bei der ergänzenden Vertragsauslegung zur Begründung seiner Fristenlösung hat der Senat in seinen Urteilen vom 14.3.2012 entscheidend darauf abgestellt, „was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie bedacht hätten, dass die Wirksamkeit der verwendeten Preisanpassungsklausel jedenfalls unsicher war.“  Dieser Redlichkeitsmaßstab liegt auch dem hier besprochenen Urteil zugrunde, wenn es dort (Rn. 33) heißt, dass bei einem Dauerschuldverhältnis kein „redlicher Kunde“ die Belieferung auf unbegrenzte Zeit zu einem Festpreis erwarte und deshalb „als fairer Vertragspartner“ auch nicht verlangen könne, „dass die Leistung auf Dauer zu gleichen Preisen aufrechterhalten bleibt, wenn die Einkaufspreise beziehungsweise die sonstigen notwendigen Kosten die für die Belieferung notwendigen Entgelte längst nicht mehr decken.“ Dagegen ist aber der Versorger schon durch sein vertragliches Kündigungsrecht und die für Rückzahlungsansprüche von Kunden geltende dreijährige Regelverjährung   weitgehend geschützt.. Was der Kunde aber redlicherweise erwarten kann, ist, dass der Versorger, wenn er sein durchaus legitimes Interesse an einem noch stärkeren Schutz durch eine als AGB gestaltete und damit für den Kunden nicht verhandelbare Preisanpassungsregelung durchzusetzen versucht, dabei die gesetzlichen Transparenzanforderungen des deutschen und europäischen AGB-Rechts erfüllt und als Klauselverwender das wirtschaftliche Risiko trägt, wenn er bei diesem Versuch scheitert.  Die Fristenlösung erfüllt diese Erwartung des Kunden nicht und verschiebt damit den Redlichkeitsmaßstab einseitig zu dessen Lasten. Die mit dieser Lösung verbundene Festlegung einer unabhängig von den Umständen des Einzelfalls generell geltenden Dreijahresfrist lässt außerdem die Einhaltung der Grenzen für eine richterliche Rechtsfortbildung zweifelhaft erscheinen. 

Ist die Fristenlösung, wie oben unter 2. aufgezeigt, schon nach deutschem AGB-Recht eine unzulässige geltungserhaltende Reduktion der unwirksamen Preisanpassungsklausel, verstößt sie schon deshalb auch gegen das europarechtliche Anpassungsverbot des Art. 6 I der KlauselRL 93/13. Danach sind seit dem Ablauf der Frist für diese Umsetzung dieser RL in nationales Recht Ende 1994 missbräuchliche und damit auch i. S. von Art. 5 intransparente AGB-Bestimmungen in Verträgen mit Verbrauchern für diese unverbindlich, wobei in diesem Fall der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Nach der Rechtsprechung ist dieses Unverbindlichkeitsgebot streng dahingehend auszulegen, dass es den nationalen Gerichten verbietet, den Inhalt missbräuchlicher AGB-Bestimmungen abzuändern, „anstatt schlicht deren Anwendung gegenüber dem Verbraucher auszuschließen.“  Nur falls der Vertrag nach Wegfall der missbräuchlichen Klausel nicht mehr bestehen kann (Art. 6 I Halbs. 2 RL 93/13), kann das nationale Gericht zur Vermeidung einer für den Verbraucher im Einzelfall besonders nachteiligen Gesamtnichtigkeit des Vertrages der Nichtigkeit der missbräuchlichen Klausel dadurch abhelfen, dass es sie durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts ersetzt.  Die Voraussetzung einer solchen Undurchführbarkeit des Vertrages ohne die nichtige Klausel ist dabei anhand objektiver Kriterien eng auszulegen.

a) Auch in dem hier besprochenen Urteil (Rn. 22 ff.) hält der Senat an seiner bereits in zwei Urteilen vom 23.1.2013  vertretenen Ansicht fest, dass seine Fristenlösung mit Art. 6 I RL 93/13 vereinbar sei. Merkwürdig daran ist aber bereits seine Darstellung (Rn. 25), dass es für die gegenteilige Ansicht im Schrifttum nur zwei „vereinzelte Stimmen“ gebe. Dabei übergeht er bereits meine Anmerkung  zu seinem Urteil vom 15.4.2015,  nach dem der Kunde den sich nach der Fristenlösung ergebenden höheren Preis trotz der Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel, auf die er gestützt wurde, als verbindlich schuldet. Übergangen wird aber auch eine größere Anzahl anderer Literaturstimmen, die entweder schon generell die Vereinbarkeit der „Reparatur“ missbräuchlicher AGB-Bestimmungen mittels einer ergänzenden Vertragsauslegung  mit Art. 6 I RL 93/13 bezweifeln  oder jedenfalls deren Anwendung in der Form der Fristenlösung.  Angesichts dieser Häufung kritischer oder jedenfalls zweifelnder Literaturstimmen ist schon deshalb die Position des Senats (Rn. 48) nicht haltbar, die Frage der Vereinbarkeit seiner Fristenlösung mit Art. 6 I RL 93/13 sei „im Sinne eines acte éclairé geklärt“ und deshalb eine Vorlage dazu an den EuGH nach Art. 367 III AEUV nicht geboten. Dagegen spricht auch bereits, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die fehlende Bindungswirkung der unwirksamen Klausel nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass sie der Kunde innerhalb einer bestimmten Frist geltend macht.  Dies aber sieht die Fristenlösung vor, wenn danach die auf eine unwirksame Preisanpassungsklausel gestützten Preiserhöhungen vom Kunden als bindend geschuldet werden, wenn er sie nicht innerhalb des maßgeblichen Dreijahreszeitraums beanstandet.

b) Wie schon in seinen Urteilen vom 21.3.2013  begründet der Senat auch im hier besprochenen Urteil (Rn. 35-38) seine Ansicht die Fristenlösung sei mit Art. 6 I RL 93/13 vereinbar, auch damit, dass sich der Versorger ohne diese Lösung auf eine für ihn unzumutbare Härte i. S. von § 306 III BGB mit der Folge der Gesamtnichtigkeit des Vertrages berufen könne, was den Kunden wegen der ihn in diesem Fall nach § 818 II BGB treffenden Verpflichtung, für die verbrauchte Energie Wertersatz nach marktüblichen Preisen zu leisten, wesentlich schlechter stellen würde als die Fristenlösung. Problematisch ist diese Begründung aber schon wegen ihrer für alle Fälle einer nach § 307 I BGB unwirksamen Preisanpassungsklausel geltenden Pauschalität. Denn wie bereits oben (Text zu Fn. 12) ausgeführt, lässt sich ein Anwendungsfall des eng auszulegenden § 306 III BGB nur annehmen, wenn im Einzelfall die unzumutbare Härte für den Versorger tatsächlich bewiesen ist. Wesentlicher aber ist, dass es für die Anwendung des Art. 6 I RL 93/13 nicht auf eine unzumutbare Härte i. S. von § 306 III BGB ankommt, sondern allein darauf, dass der Vertrag ohne die unwirksame Preisanpassungsklausel nicht durchführbar ist.  Auf das Vorliegen dieser Voraussetzung hat sich der Senat aber nicht gestützt. Sie könnte mit der Fristenlösung auch ebenso wenig pauschal für alle Fälle der Unwirksamkeit einer Preisanpassungsklausel in einem langfristigen Energieliefervertrag bejaht werden wie eine für den Versorger unzumutbare Härte.

Aus der Begründung des  EuGH-Urteils vom 30.4.2014 wird auch deutlich, dass es bei der danach ausnahmsweise ermöglichten Abhilfe durch die Anwendung nationalen dispositiven Rechts allein um die Vermeidung von Nachteilen für den Verbraucher geht, nicht aber, wie bei der Fristenlösung, um die Vermeidung einer unzumutbaren Härte für den Versorger. In den Rn. 77-79 wiederholt der EuGH auch seine früheren Aussagen zur Abschreckungswirkung der in Art. 6 I RL 93/13 geregelten Nichtigkeitsfolge und betont ein weiteres Mal, dass missbräuchliche Klauseln gegenüber dem Verbraucher „schlicht unangewendet“ bleiben müssen. Diese Wirkung wird aber durch die Fristenlösung entgegen der Zielsetzung der RL 93/13 in erheblichem Maße abgeschwächt.

Angesichts der vorstehend angeführten Gegenargumente und der in den Fn. 23 und 24 aufgelisteten, keineswegs nur „vereinzelten“ kritischen oder jedenfalls zweifelnden Stimmen im Schrifttum ist die Ansicht des Senats, die Frage der Vereinbarkeit seiner Fristenlösung („Dreijahreslösung“) mit dem Anpassungsverbot des Art. 6 I der EU-Klauselrichtlinie 93/13 sei im Sinne eines die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte der Mitgliedstaaten von ihrer Vorlagepflicht nach Art. 267 III AEUV ausnehmenden „acte éclairé“ geklärt (Rn. 48), offensichtlich nicht haltbar.  Keines der vom Senat für seine Ansicht zitierten EuGH-Urteile hat sich bisher mit der Frage befasst, ob der Nichtigkeit der wegen ihrer Intransparenz missbräuchlichen Preisanpassungsklauseln in den AGB langfristiger Energielieferverträge mit Verbrauchern durch eine derartige Lösung pauschal für alle betroffenen Fälle europarechtskonform abgeholfen werden kann. Der Senat lag bei seiner europarechtlichen Beurteilung der in der deutschen Strom- und Gaswirtschaft praktizierten Preisanpassungsrechte der Versorger bereits zweimal daneben und musste sich deshalb vom EuGH korrigieren lassen,  was selbstverständlich nicht ausschließt, dass er diesmal recht hat, Aber das kann nicht er als das mit der Frage befasste letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht, sondern allein der EuGH nach Art. 267 III AEUV verbindlich entscheiden. Mit seiner erneuten Verweigerung einer Vorlage an den EuGH hat er deshalb gegen seine Vorlagepflicht nach dieser Vorschrift verstoßen und damit zugleich den unterlegenen Verbraucher entgegen Art. 101 I 2 GG seinem gesetzlichen Richter entzogen.

Prof. Dr. Kurt Markert, Berlin


Offline energienetz

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Gerichte, die laufende Verfahren aufgrund der Verfassungsbeschwerde aussetzen oder ruhend stellen mit den jeweiligen Aktenzeichen:


Gericht   Aktenzeichen    Anmerkungen
AG Königswinter    12 C 1/15   
AG  Linz am Rhein    24 C 6/15   
AG Linz am Rhein    23 C 4/15   
AG Linz am Rhein    23 C 5/15   
LG Dortmund    16 O 241/10 [Kart]   
AG Velbert    10 C 245/13   
LG Münster    09 S 113/11   
LG Münster    09 S 16/12   
LG Münster    09 S 13/12   
AG Rheine    10 C 240/12   ruht da Parallelverf. vor dem LG Münster ausgesetzt wurden
LG Münster    09 S 17/12   
AG Rheine    10 C 23/15   ruht da Parallelverf. vor dem LG Münster ausgesetzt wurden
LG Münster    09 S 14/12   
LG Münster    09 S 15/12   
AG Rheine    10 C 96/12   ruht da Parallelverf. vor dem LG Münster ausgesetzt wurden
AG Rheine    10 C 43/15   ruht da Parallelverf. vor dem LG Münster ausgesetzt wurden
LG Münster    09 S 30/12   
LG Münster    09 S 27/12   
AG Rheine    10 C 34/15   ruht da Parallelverf. vor dem LG Münster ausgesetzt wurden
AG Rheine    Diverse   ruht da Parallelverf. vor dem LG Münster ausgesetzt wurden


Offline tangocharly

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In der bezogenen Entscheidung stützt sich der 8.Senat (siehe Rdz. 48) auf die Entscheidung des EuGH vom 21.01.2015, RS. C-482/13 dafür, dass keine Zweifel daran bestehen, dass Gerichte anderer Mitgliedsstaaten zu anderen Entscheidungen gelangen können, als wie vom 8.Senat entschieden.

Diese Begründung ist Tautologie.  Hieran kann sehr wohl gezweifelt werden, wie das Nachstehende zeigen wird. Denn wenn die Gerichte anderer Mitgliedsstaaten sich genau nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (RS. C-482/13) richten wollen, dann müssen diese geradewegs zu einer anderen Entscheidung gelangen als der BGH.

Den Umgang mit einer missbräuchlichen Klausel erörtert der Gerichtshof in der zitierten Entscheidung vom 21.01.2015 vor den Richtlinienzielen gem. Art. 7 und Art. 6 unter zwei Gesichtspunkten, nämlich (1) durch Abänderung und (2) durch Ersetzung solcher missbräuchlicher Klauseln.

Und dies sieht dann in der Urteilsbegründung so aus:

Tz. 31, 32 (zur Frage einer Abänderung)
Stünde es dem nationalen Gericht tatsächlich frei, den Inhalt der missbräuchlichen Klauseln abzuändern, könnte eine derartige Befugnis die Verwirklichung des langfristigen Ziels gefährden, das mit Art. 7 der Richtlinie 93/13 verfolgt wird. Diese Befugnis trüge nämlich dazu bei, den Abschreckungseffekt zu beseitigen, der für die Gewerbetreibenden darin besteht, dass solche missbräuchlichen Klauseln gegenüber dem Verbraucher schlicht unangewendet bleiben; die Gewerbetreibenden blieben nämlich versucht, die betreffenden Klauseln zu verwenden, wenn sie wüssten, dass der Vertrag, selbst wenn die Klauseln für unwirksam erklärt werden sollten, gleichwohl im erforderlichen Umfang vom nationalen Gericht angepasst werden könnte, so dass ihr Interesse auf diese Art und Weise gewahrt würde (Urteile Banco Español de Crédito, EU:C:2012:349, Rn. 69, sowie Kásler und Káslerné Rábai, EU:C:2014:282, Rn. 79).
32      Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 einer mitgliedstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, wonach das nationale Gericht, wenn es die Nichtigkeit einer missbräuchlichen Klausel in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher feststellt, durch Abänderung des Inhalts dieser Klausel den Vertrag anpassen kann (Urteile Banco Español de Crédito, EU:C:2012:349, Rn. 73, sowie Kásler und Káslerné Rábai, EU:C:2014:282, Rn. 77).

Tz. 33 (zur Frage einer Ersetzung)
Gewiss hat der Gerichtshof ebenfalls die Möglichkeit für das nationale Gericht anerkannt, eine missbräuchliche Klausel durch eine dispositive nationale Vorschrift unter der Voraussetzung zu ersetzen, dass diese Ersetzung mit dem Ziel von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in Einklang steht und es ermöglicht, ein tatsächliches Gleichgewicht der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien wiederherzustellen. Diese Möglichkeit ist allerdings auf die Fälle beschränkt, in denen die Ungültigerklärung der missbräuchlichen Klausel das Gericht verpflichten würde, den Vertrag insgesamt für nichtig zu erklären, wodurch der Verbraucher Konsequenzen ausgesetzt würde, die derart sind, dass er dadurch bestraft würde (vgl. in diesem Sinne Kásler und Káslerné Rábai, EU:C:2014:282, Rn. 82 bis 84).


Der 8. Senat hat in seinen Urteilen die für unwirksam erklärten Klauseln (§ 4 AVB) nicht abgeändert, sondern mit seiner „ergänzenden Vertragsauslegung“ ersetzt. Er begründet nämlich eine fiktive Vereinbarung zwischen Versorger und Verbraucher mit dem Inhalt, dass die Vertragsparteien beim Vertragsschluss ja überhaupt nichts anderes vereinbaren wollten, als eine Preisänderungsmöglichkeit, wie diese vormals in § 4 AVB vorgesehen war.

Nachdem aber auch aus dem Blickwinkel des 8. Senats keine Notwendigkeit besteht, den Versorgungsvertrag für nichtig zu erklären, bleibt für die „ergänzende Vertragsauslegung“ kein Raum.

Erst wenn der Schluss auf die Nichtigkeit des Vertrags gezogen werden müsste, käme eine Ergänzung im Sinne der Gerichtshof-RSpr. zum Zuge.

Und auch hier würden sich Gerichte anderer Mitgliedsstaaten erneut an der Rspr. des Gerichtshofes orientieren, wonach

Tz. 30
Aufgrund von Art und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der Schutz beruht, der den Verbrauchern gewährt wird, weil sie sich gegenüber den Gewerbetreibenden in einer Position der Unterlegenheit befinden, verpflichtet die Richtlinie 93/13, wie sich aus ihrem Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem 24. Erwägungsgrund ergibt, zudem die Mitgliedstaaten, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird (Urteile Banco Español de Crédito, EU:C:2012:349, Rn. 68, sowie Kásler und Káslerné Rábai, C‑26/13, EU:C:2014:282, Rn. 78).



Wenn sich schon der BGH hieran nicht halten will, dann besteht doch immer noch Hoffnung, dass dies die Gerichte anderer Mitgliedstaaten aber tun werden. Und genau hierzu hat der EuGH in seinen Entscheidungen vom 21.03.2013 und vom 23.10.2014 ganz deutliche Worte formuliert, wie die Transparenzgebote in Gas- und Stromrichtlinie dem Verbraucherschutz zu dienen haben.

Was die Fristenlösung anlangt, so ist schon überhaupt kein Gesichtspunkte erkennbar, der eine Abweichung von den gesetzlichen Verjährungsregeln abnötigt.
<<Der Preis für die Freiheit ist die Verantwortung>>

 

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