Prof. Dr. Kurt Markert
Kurzstellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts (GA) Wahl in den EuGH-Sachen C-359/11 und C-400/11 betr. das Preisbestimmungsrecht der Versorger von Tarif- und Grundversorgungskunden
Die Schlussanträge weichen sowohl in der materiellrechtlichen Beurteilung als auch in der Frage der zeitlichen Begrenzung der Entscheidungswirkung vom Urteil des EuGH vom 21.3.2013, C–92/11 – RWE Vertrieb, diametral ab, was für mich in beiden Punkten schon ein erstaunliches Beispiel juristischer Argumentationskunst ist. Bei seinem materiellrechtlichen Ergebnis, wonach anders als bei den Sonderkundenverträgen die nach den Binnenmarktrichtlinien erforderliche Transparenz über Anlass und Modus möglicher einseitiger Preisänderungen für die Tarif- bzw. Grundversorgungskunden nicht schon bei Vertragsabschluss hergestellt werden muss, sondern erst zeitgleich mit der jeweiligen Preiserhöhung, räumt GA Wahl (Rn. 64) selbst ein, dass damit diese Kunden schlechter geschützt werden als Sonderkunden, obwohl sie im Vergleich zu diesen Kunden in einer schwächeren Position gegenüber den Versorgern und damit in stärkerem Maße schutzbedürftig seien. Seine Begründung, der Unionsgesetzgeber habe das so gewollt, ist jedoch nicht stichhaltig. GA Wahl selbst zitiert in Rn. 7 den Anhang A der Binnenmarktrichtlinien, wo es heißt, dass die Lieferbedingungen „im Voraus“ dem Verbraucher bekannt sein müssen, was ganz offensichtlich vor Vertragsabschluss bedeutet. Dem nach Art. 3 dieser Richtlinien von den Mitgliedstaaten zu gewährleistenden „hohen Verbraucherschutz“ mit einem „angemessenen Schutz“ für die „besonders schutzbedürftigen Kunden“ würde es diametral widersprechen, wenn ausgerechnet die auch nach GA Wahl am schutzbedürftigsten Tarif- bzw. Grundversorgungskunden in der Transparenzfrage erheblich schlechter gestellt würden als die weniger schutzbedürftigen Sonderkunden. Auch die von GA Wahl betonte Versorgungspflicht gegenüber Grundversorgungskunden nach § 36 Abs. 1 EWG kann dies nicht rechtfertigen, denn diese steht, was GA Wahl unerwähnt lässt, unter dem Vorbehalt des aus wirtschaftlichen Gründen Zumutbaren. Damit ist dem Rentabilitätsinteresse des Versorgers hinreichend Rechnung getragen. Eines darüber hinausgehenden Schutzes durch Reduktion des Transparenzschutzes ausgerechnet der schwächsten Verbraucher in der Tarifkunden- bzw. Grundversorgung bedarf es daher nicht. Die von GA Wahl für diese Verbraucher in seinem Vorschlag (Rn. 78) als ausreichend angesehene Information über Anlass, Voraussetzungen und Umfang von Preiserhöhungen erst mit der Bekanntgabe der einzelnen Erhöhungen macht auch schon deshalb nur begrenzt Sinn, weil für diese Kunden jedenfalls der Umfang der jeweiligen Erhöhung ohnehin bereits aus deren Bekanntgabe ersichtlich ist. Ihren vollständigen Sinn kann die Information des Kunden über Anlass. Voraussetzungen und Umfang von Preiserhöhungen nur dann erfüllen, wenn wie im Falle der Sonderkunden auch für die Tarif- bzw. Grundversorgungskunden schon vor ihrer Entscheidung über den Vertragsabschluß mit einem Versorger Klarheit besteht, mit welchen Modalitäten sie mit dem Vertragsabschluss auch ein einseitiges Preiserhöhungsrecht des Versorgers akzeptieren.
Im Widerspruch zu dem EuGH-Urteil vom 21.3.2013 steht auch die Position von GA Wahl in der Frage des Wirksamkeitszeitpunkts der zu treffenden EuGH-Entscheidung. Seine Begründung für das auch in dieser Frage von diesem Urteil abweichende Ergebnis in Rn. 72, dass es sich hier anders als bei jenem Urteil um eine Entscheidung des EuGH über die Vereinbarkeit der relevanten Bestimmungen des deutschen Rechts mit dem Unionsrecht handele, ist schlicht falsch. Dies folgt schon aus den Vorlagefragen des BGH, in denen nur um eine Auslegung der Art. 3 Abs. 3 bzw. 5 der Binnenmarktrichtlinien Strom bzw. Erdgas in Verbindung mit deren Anhang A Buchst. b und c ersucht wird. Der EuGH kann aus Rechtsgründen im Vorlageverfahren Art. 267 AEUV immer nur über die Auslegung von Unionsrecht entscheiden, die dann allerdings für die Gerichte der Mitgliedstaaten bindend ist. Ob die für die Vorlage Anlass gebenden nationalen Vorschriften mit dem Auslegungsergebnis vereinbar sind und welche Rechtsfolgen sich im Falle ihrer Unvereinbarkeit ergeben, ist allein Sache des vorlegenden nationalen Gerichts, also hier des BGH. Insofern besteht in den beiden aktuellen Fällen keinerlei Unterschied zu dem vom EuGH mit Urteil vom 21.3.2013 entschiedenen RWE-Fall. Dort (Rn. 61 f.) hat der EuGH ausgeführt, über die finanziellen Folgen seiner Entscheidung könne nicht allein auf der Grundlage der im Rahmen der vorliegenden Rechtssache vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts entschieden werden. Das Bestehen einer Gefahr schwerwiegender Störungen, die eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen seines Urteils rechtfertigen könnte, könne deshalb nicht als erwiesen angesehen werden. Es ist nicht einzusehen, weshalb das, was nach diesem Urteil für mögliche finanzielle Auswirkungen des Auslegungsergebnisses des EuGH für die Versorger von Sonderkunden gilt, nicht auch für die Versorger von Tarif- bzw. Grundversorgungskunden gelten soll. Das mögliche Gesamtvolumen dieser Auswirkungen ist vermutlich in diesem Fall sogar eher geringer. Wenn GA Wahl (Rn. 74, Fn. 48) in diesem Zusammenhang darauf verweist, dass für Rückforderungsansprüche von Tarif- bzw. Grundversorgungskunden möglicherweise nicht die für entsprechende Ansprüche von Sonderkunden geltende dreijährige Regelverjährung, sondern die zehnjährige Verjährung gilt, ist dem entgegenzuhalten, dass es in der bisherigen Rechtsprechung des BGH und der Instanzgerichte keine Anhaltspunkte für diese Unterscheidung gibt. Es ist auch nicht ersichtlich, wie sie überzeugend begründet werden könnte. Schließlich lässt sich entgegen GA Wahl (Rn. 76) auch die erforderliche Gutgläubigkeit der betroffenen Versorger nicht annehmen. Denn schon mit den Vorlagen des BGH, aber in jedenfalls seit dem EuGH-Urteil vom 21.3.2013, konnte niemand mehr ernsthaft darauf vertrauen, dass für das Preisbestimmungsrecht der Versorger von Tarif- bzw. Grundversorgungskunden nach den Binnenmarktrichtlinien Strom und Gas geringere Transparenzanforderungen gelten könnten als für das entsprechende Recht der Versorger von Sonderkunden.
Das Verfahren beim EuGH sieht wohl ein Recht der Prozessparteien zur Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht vor. Man kann deshalb nur hoffen, dass der EuGH die Widersprüche in der Argumentation des GA Wahl zum RWE-Urteil vom 21.3.2013 und zu anderen EuGH-Urteilen sieht und der neutralen und ausgewogenen Stellungnahme der EU-Kommission entsprechend entscheidet.