Energiepreis-Protest > Grundsatzfragen

BGH-Richterrecht vom 14.03.2012 verstößt gegen EU-Verbraucherrecht

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tangocharly:
Bei aller (verstehbar) empathischer Vorfreude über die Schlußanträge der GAin wollen wir doch derzeitig nicht aus dem Auge verlieren, dass das Fell des Bären erst verteilt werden kann, wenn er gefangen wurde.

Wenn Ihnen schon Amtsrichter trotz Vorlage der Streitfragen durch den BGH und Aussetzung der Folgeverfahren gem. § 148 ZPO analog, trotzig eine Fallentscheidung liefern und das Verfahren beim dortigen Gericht nicht aussetzen wollen, was glauben Sie, werden dann die salbungsvollen Worte der GAin beim EuGH bei solchen Herrschaften auslösen.

Das letzte Wort hat der EuGH - Punkt.

courage:
Rechtsanwalt Dr. Jörg Schendel, Berlin, kommentiert in EWeRK 4/2012 die BGH-Urteile vom 14.03.2012, VIII ZR 113/11 und VIII ZR 93/11, kritisch:

--- Zitat ---Ebenfalls unbefriedigend ist schließlich die rechtliche Bedeutung, die einer weder vertraglich noch gesetzlich vorgesehenen "Beanstandung" der Preiserhöhung zuerkannt wird, …
--- Ende Zitat ---
siehe dazu auch den Eingangsbeitrag, insbes. unter Abs. 7 und 10.

Lothar Gutsche:
Die Ausführungen von Nutzer "courage" sind in sehr ähnlicher Form inzwischen in Heft 6/2012 der Zeitschrift für Neues Energierecht (ZNER) publiziert worden, dort als Kurzbeitrag auf den Seiten 590 - 591.

Wilhelm Zimmerlin: Der Schutz von Energieverbrauchern in der Rechtsprechung des 8. Zivilsenats des BGH und nach EU-Recht, ZNER Heft 6/2012, S. 590 - 591

Diesen Aufsatz fasse ich wie folgt zusammen: Der BGH hat mit dem Urteil VIII ZR 113/11 vom 14.3.2012 die „Preisbeanstandung zu einer neuartigen Obliegenheit der Haushaltskunden von Energieverbrauchern erhoben.“ Von solchen rechtewahrenden Pflichten ist weder in den bisherigen Energieverträgen noch im Gesetz etwas zu finden. Außerdem gilt nach dem Urteil: „Missbräuchlich unterlassene Preissenkungen sind demzufolge nicht angreifbar.“

Die Ansicht des BGH, es käme auf eine Beanstandung des Kunden an, damit er seiner Rechte nicht verlustig geht, führt zur Benachteiligung der Kunden und im Sinne des Verbraucherschutzes zu einer europarechtlich unzulässigen Verlagerung der Versorgerrisiken auf die Kunden. Stattdessen sind die Verbraucherrechte durch richtlinienkonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts effektiv durchzusetzen:

* Nach Art. 6 der EU-Richtlinie 93/13/EWG (Klausel-Richtlinie) sind missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich.
* Gemäß Art. 7 der EU-Richtlinie 93/13/EWG müssen die Mitgliedstaaten – und hier sind auch die Gerichte des Mitgliedsstaates Deutschland angesprochen – dafür sorgen, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.
* Nach Art. 5 der EU-Richtlinie 93/13/EWG gilt bei Zweifeln über die Bedeutung einer Klausel die für den Verbraucher günstigste Auslegung.
* Die Ansicht des BGH, wonach sich ein Kunde nicht mehr auf den anfänglichen Vertragspreis berufen können soll, ist nicht mit Art. 6 Abs. 1 der EU-Richtlinie 93/13/EWG vereinbar. Dort ist nämlich eindeutig geregelt, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann. Demnach bleibt also der anfängliche Vertragspreis für den Kunden und den Versorger bindend. Diese Regelung korrespondiert mit dem Grundsatz, dass der Verwender von unwirksamen Klauseln auch das Risiko dafür trägt.
Der Nutzer "courage" hatte auch schon auf die Kritik des Rechtsanwaltes Dr. Jörg Schendel von der Berliner Kanzlei EggersMalmendier unter dem Titel in EWeRK 4/2012, Seite 145 – 147, hingewiesen. In diesem Aufsatz charakterisiert Dr. Schendel die BGH-Rechtsprechung VIII ZR 113/11 und VIII ZR 93/11 vom 14.3.2012 unter  http://www.pvs.nomos.de/fileadmin/ewerk/doc/2012/Ewerk_12_04_03.pdf  von Rechtsanwalt Dr. Jörg Schendel : „Es handelt sich um eine reine richterliche Rechtsfortbildung ohne rechte Grundlage in Vertrag oder Gesetz.“

Und nun meldet sich am 23.01.2013 der VIII. Zivilsenat des BGH mit einer ganzen Reihe von Urteilen, in denen er sich mit unwirksamen Preisänderungsklauseln in Sonderverträgen zur Gasversorgung Euskirchen beschäftigt. Unter den vielen Fällen mit den Aktenzeichen VIII ZR 100/12, VIII ZR 23/12, VIII ZR 24/12, VIII ZR 345/11, VIII ZR 59/12, VIII ZR 60/12, VIII ZR 61/12, VIII ZR 79/12, VIII ZR 80/12 und VIII ZR 99/12 befindet sich auch ein Leitsatzurteil (VIII ZR 80/12) mit den drei folgenden Leitsätzen:

a) Auch in Ansehung des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG kann eine infolge der Unwirksamkeit einer formularmäßig vereinbarten Preisänderungsklausel nach § 307 BGB entstehende planwidrige Regelungslücke in einem Energieversorgungsvertrag mit einem (Norm-)Sonderkunden im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung (§§ 157, 133 BGB) dahingehend geschlossen werden, dass der Kunde die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen kann, wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat (Fortführung der Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, NJW 2012, 1865, Rn. 19 ff., zur Veröffentlichung in BGHZ 192, 372 bestimmt, und VIII ZR 93/11, ZNER 2012, 265, Rn. 24 ff.).
b) Ist die in einem Energieversorgungsvertrag mit einem (Norm-)Sonderkunden formularmäßig vereinbarte Preisänderungsklausel nach § 307 BGB unwirksam, verbleiben das Kalkulations- und damit auch das Kostensteigerungsrisiko grundsätzlich bei dem Energieversorgungsunternehmen (Fortführung des Senatsurteils vom 25. Oktober 1989 - VIII ZR 105/88, BGHZ 109, 139, 145). Dessen Verpflichtung zur Herausgabe der von dem Kunden rechtsgrundlos gezahlten Erhöhungsbeträge ist daher nicht gemäß § 818 Abs. 3 BGB ausgeschlossen.
c) Die Verjährung von Rückzahlungsansprüchen wegen Gaspreisüberzahlungen beginnt nicht bereits mit den jeweils geleisteten Abschlagszahlungen, sondern erst mit der anschließenden Erteilung der Jahresabrechnung zu laufen (Bestätigung des Senatsurteils vom 23. Mai 2012 - VIII ZR 210/11, NJW 2012, 2647 Rn. 9 ff.).

Der 1. Leitsatz und die zugehörige Begründung in den juris-Randnummern 24 - 37 erwecken den Eindruck, als habe der VIII. Zivilsenat unter dem Vorsitz des Richters Wofgang Ball den Verbraucherschutz aus den EU-Richtlinien umfassend  berücksichtigt, wenn er den Energieversorgungstrag einer ergänzenden Vertragsauslegung unterzieht. Es bleiben die offensichtlichen Widersprüche zu den Ansichten von Wilhelm Zimmerlin und Dr. Jörg Schendel. Hoffentlich vertiefen oder korrigieren beide Autoren ihre Kritik im Licht der neuen BGH-Urteile, damit die juristischen Laien und untere Gerichtsinstanzen eine ordentliche Basis haben, um im Falle unwirksamer Preisanpassungsklauseln die Rückforderungsansprüche richtig beziffern zu können.

Im Sinne des Preisgünstigkeitsgebotes von § 1 EnWG scheint mir die Lösung sachgerechter, die der VIII. Zivilsenat des BGH in juris-Randnummer 37 des Urteils VIII ZR 80/12 vom 23.1.2013 selbst skizziert:

Ohne die vom Senat vorgenommene ergänzende Vertragsauslegung in derartig gelagerten Fällen könnte sich der Energieversorger - auch in Ansehung seiner verfassungsrechtlich geschützten Berufsfreiheit (vgl. BVerfG, aaO) - darauf berufen, dass die Versorgung des Kunden zu dem Ausgangspreis für ihn eine unzumutbare Härte darstelle, wenn der bei dem lange Zeit zurückliegenden Vertragsabschluss vereinbarte Preis seit vielen Jahren nicht mehr kostendeckend ist. Dies hätte gemäß § 306 Abs. 3 BGB die Unwirksamkeit des Liefervertrages zur Folge, so dass das Vertragsverhältnis für die Vergangenheit nach Bereicherungsrecht rückabzuwickeln wäre. Hierbei wäre die materielle Ausgewogenheit der beiderseitigen Leistungen indes nicht in dem gleichen Maße sichergestellt wie bei der ergänzenden Vertragsauslegung. 

Der Vertrag zur Energielieferung wäre unwirksam und müsste für die Vergangenheit nach Bereicherungsrecht rückabgewickelt werden. Bei dieser Rückabwicklung würde die Forderung nach "möglichst preisgünstiger" Lieferung aus § 1 EnWG die Ansprüche des Energieversorgers begrenzen und den Verbraucher nicht völlig von der Kostenentwicklung abkoppeln. An dem gesetzlichen Maßstab der Preisgünstigkeit wäre eine "Ausgewogenheit der beiderseitigen Leistungen" zu erreichen. Die Beschränkung der Rückforderungsansprüche auf drei Jahre erscheint mir dagegen gerade nicht "ausgewogen".

Mit freundlichen Grüßen
Lothar Gutsche
Email: Lothar.Gutsche@arcor.de

bolli:

--- Zitat von: Lothar Gutsche am 13. Februar 2013, 21:25:00 ---Der Vertrag zur Energielieferung wäre unwirksam und müsste für die Vergangenheit nach Bereicherungsrecht rückabgewickelt werden. Bei dieser Rückabwicklung würde die Forderung nach "möglichst preisgünstiger" Lieferung aus § 1 EnWG die Ansprüche des Energieversorgers begrenzen und den Verbraucher nicht völlig von der Kostenentwicklung abkoppeln. An dem gesetzlichen Maßstab der Preisgünstigkeit wäre eine "Ausgewogenheit der beiderseitigen Leistungen" zu erreichen. [/i]".

--- Ende Zitat ---
Wenn man bedenkt, wie hoch schon in den wenigen Fällen, in denen in der Grundversorgung Sachverständigengutachten erstellt wurden, der Aufwand war, wage ich mir gar nicht vorzustellen, wie dieser in Fällen von 30 Jahre zurückliegenden Preisen liegt. Mal ganz davon abgesehen, dass fraglich ist, ob man überhaupt noch alle dafür notwendigen Unterlagen zusammen bekommt, da die Aufbewahrungsfristen für solche Unterlagen bei lange zurückliegenden Verträgen (Lieferverträge) bereits lange abgelaufen sind. Da dürften einige Unmöglichkeiten drin stecken.
Gleichwohl finde ich (natürlich) die 3-Jahresregelung des BGH auch sehr willkührlich und deutlich eher zugunsten der Versorger.

RR-E-ft:
Der BGH hatte in seinen Entscheidungen vom 14.03.12 Az. VIII ZR 93/11 und VIII ZR 113/11 eine Möglichkeit entwickelt, wie die durch die Unwirksamkeit einer einbezogenen Klausel im Vertragsgefüge entstehende Lücke geschlossen werden können soll.

Zunächst bedarf es jedoch im konkreten Einzelfall der Feststellung der Voraussetzung der ergänzenden Vertragsauslegung, nämlich dass die weitere Vertragsdurchführung für den Versorger eine unzumutbare Härte darstellt.


--- Zitat ---BGH, B. v. 24.04.12 Az. VIII ZR 278/11, juris Rn. 6

Die vom Senat für den Fall der Unwirksamkeit einer vertraglich vereinbarten Preisanpassungsklausel entwickelte Möglichkeit einer ergänzenden Vertragsauslegung (vgl. Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, zur Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, unter II 3, und VIII ZR 93/11, zur Veröffentlichung bestimmt, unter II 4) kommt vorliegend nicht in Betracht, weil es hierzu an einem ausreichenden Vortrag in den Tatsacheninstanzen fehlt.

Die Klägerin hat  trotz eines entsprechenden Hinweises des Berufungsgerichts - weder den vertraglich vereinbarten Ausgangspreis vorgetragen, noch hat sie dargelegt, dass sich aus den Zahlungen des Beklagten ergibt, dass dieser auch für länger zurück liegende Zeitabschnitte die Unwirksamkeit der Preiserhöhungen geltend macht (vgl. Senatsurteile vom 14. Juli 2010 - VIII ZR 246/08, BGHZ 186, 180 Rn. 52; vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, aaO und VIII ZR 93/11, aaO).
--- Ende Zitat ---


In seiner Leitsatzentscheidung vom 23.01.13 Az. VIII ZR 80/12 scheint der Senat diese entwickelte Möglichkeit zum Dogma erheben zu wollen.


--- Zitat ---BGH, Urt. v. 23.01.13 Az. VIII ZR 80/12, juris Rn. 23:

Wie der Senat - nach Erlass des Berufungsurteils - entschieden hat, ist diese Lücke im Vertrag im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung gemäß §§ 157, 133 BGB in der Weise zu schließen, dass der Kunde die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen, die zu einem den vereinbarten Anfangspreis übersteigenden Preis führen, nicht geltend machen kann, wenn er sie nicht in-nerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresab-rechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat (vgl. Senatsurteile vom 14. März 2012 - VIII ZR 113/11, aaO Rn. 21 ff., und VIII ZR 93/11, aaO Rn. 26 ff.; jeweils mwN).
--- Ende Zitat ---

Dass dabei die Voraussetzungen einer solchen ergänzenden Vertragsauslegung im konkreten Einzelfall geprüft wurden (wie bei BGH, B. v. 24.04.12 Az. VIII ZR 278/11, juris Rn. 6) ist nicht ersichtlich.

An dieser notwendigen Voraussetzung kann es insbesondere dann fehlen, wenn die Kosten, die dem Versorger durch die Belieferung entstehen zwischenzeitlich wieder auf das Niveau abgesunken sind, welches bereits bei der Kalkulation für das Angebot des Ausgangspreises zu Vertragsbeginn zu Grunde gelegt wurde.
Es wäre deshalb zunächst zu prüfen, wie sich die abzudeckenden Kosten zwischenzeitlich tatsählich entwickelt haben.

Allein auf erfolgte einseitige Preisänderungen und den Zeitablauf abzustellen, dürfte deshalb kein hinreichendes Kriterium darstellen.
Im Extremfall ist denkbar, dass alle vorgenommenen einseitigen Preisänderungen ohne entsprechenden Kostenanstieg allein zur Erhöhung des Gewinnanteils vorgenommen wurden.   

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