Energiepreis-Protest > Grundsatzfragen
Auswirkungen des Obiter Dictum im BGH-Urteil vom 14. Juli 2010
Gas-Rebell:
Im Urteil vom 14. Juli 2010 (VIII ZR 246/08 ) hatte der BGH hinsichtlich der durch den Wegfall einer unwirksamen Klausel entstandenen Regelungslücke eine ergänzende Vertragsauslegung abgelehnt, da die entsprechenden Voraussetzungen, dass sich die Lücke nicht durch dispositives Gesetzesrecht füllen lässt und dies zu einem Ergebnis führt, das den beiderseitigen Interessen nicht mehr in vertretbarer Weise Rechnung trägt, sondern das Vertragsgefüge völlig einseitig zugunsten des Kunden verschiebt, nicht erfüllt seien. Dies insbesondere deswegen, weil der Versorger Anlass gehabt habe, angesichts verbraucherseitiger Preiswidersprüche eine Kündigung des Vertrages in Erwägung zu ziehen.
Ergänzend dazu führte der BGH dann aus:
--- Zitat --- „Offen bleiben kann, ob eine andere Beurteilung geboten ist, wenn es sich um ein langjähriges Gasversorgungsverhältnis handelt, der betroffene Kunde den Preiserhöhungen und den darauf basierenden Jahresabrechnungen über einen längeren Zeitraum nicht widersprochen hat (vgl. dazu auch unten unter II 1) und nunmehr auch für länger zurück liegende Zeitabschnitte die Unwirksamkeit der Preiserhöhungen (durch Feststellungsklage oder durch Klage auf Rückzahlung geleisteter Entgelte) geltend macht. Sind in einem solchen Fall die Gestehungskosten des Gasversorgungsunternehmens erheblich gestiegen und ergibt sich daraus für die betroffenen Zeiträume ein erhebliches Missverhältnis zwischen dem Wert der von dem Unternehmen zu erbringenden Leistung und dem vereinbarten Preis, lässt sich die Annahme eines nicht mehr interessengerechten Ergebnisses jedenfalls hinsichtlich der länger zurück liegenden Zeitabschnitte nicht ohne weiteres mit der Begründung verneinen, dass eine Kündigungsmöglichkeit bestand. Denn für das Versorgungsunternehmen bestand in einem solchen Fall zunächst kein Anlass, eine Kündigung des Vertrages in Erwägung zu ziehen.“
--- Ende Zitat ---
Die aktuellen Auswirkungen dieses „Obiter Dictum“ des BGH kann man nun in ersten Gerichtsverfahren beobachten, so z.B. in diversen Rückforderungsverfahren von Kunden der Gasversorgung Main-Kinzig GmbH vor dem Amtsgericht Gelnhausen.
Die Presse berichtet hierzu:
--- Zitat ---Die Vertreter der Gaskläger, Dr. Walter Unger und Leonora Holling, setzen Hoffnungen in ein Sachverständigengutachten, das Richter Fuchs bereits angekündigt habe und um das Richterin Pirlich-Kraus wohl auch nicht mehr herumkomme. Als Grundlage der Entschädigungszahlungen werde dann wohl ein Preis angesetzt, der für das Unternehmen gerade noch kostendeckend sei, mutmaßte Rechtsanwalt Unger. Auch der Geschäftsführer der Gasversorgung Main-Kinzig-Gas, Dr. Rudolf Benthele, teilt die Einschätzung der Gegenseite, dass das Gericht bezüglich der Höhe der Rückforderungen einen Preis vereinbaren werde, der für das Unternehmen kostendeckend sein werde.“
--- Ende Zitat ---
Da reibt man sich doch erstaunt die Augen und fragt sich:
Entsteht da nun in der deutschen Rechtssprechung eine Art Billigkeitsprüfung für Rückforderungen?
Kann man es damit als Kunde \"vergessen\", Rückforderungsansprüchen den vertraglich vereinbarten Anfangspreis zugrunde zu legen?
Und müssen klagende Kunden nun mit einem gleich hohen Kostenrisiko rechnen wie in § 315-Verfahren?
RR-E-ft:
Das Problem betrifft überhaupt nur diejenigen Kunden, die nie einen Widerspruch erhoben hatten (vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 02.09.10 Az. U 1200/09 Kart.).
Siehe speziell bei MKG
Voraussetzung für die Einholung eines Sachverständigengutachtens wäre zudem , dass zunächst die Anknüpfungstatsachen nachvollziehbar vorgetragen werden, weil ein SV- Gutachten sonst auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis hinausliefe.
Werden streitentscheidende Anknüpfungstatsachen nachvollziehbar vorgetragen und unter SV- Beweis gestellt, dann weiß der betroffene Kunde, dass der Versorger im Falle des Bestreitens (mit Nichtwissen) den Gerichtskostenvorschuss für das SV- Gutachten vorzuschießen hat und dass auch diese Kosten, wenn sie anfallen, schlussendlich von der unterlegenen Partei des Rechtsstreits zu tragen sind, woraus sich ein gewisses Risiko ergibt.
Wer dieses Risiko scheut, kann sich durch sein weiteres Prozessverhalten immer noch so einrichten, dass ihn dieses Risiko nicht trifft.
Gas-Rebell:
--- Zitat ---Original von RR-E-ft
Das Problem betrifft überhaupt nur diejenigen Kunden, die nie einen Widerspruch erhoben hatten (vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 02.09.10 Az. U 1200/09 Kart.).
--- Ende Zitat ---
Wieso betrifft das nur die Kunden, die nie Widerspruch erhoben haben? Im entschiedenen Fall hatte der Kunde doch auch Widerspruch erhoben, wenngleich bei einem Vertrag aus 1995 erstmals in 2006, also nach 11 Jahren.
(Allgemein scheint mir fast, als wolle der BGH mit seinem Obiter Dictum bei \"längerer widerspruchsloser Preishinnahme\" quasi durch die Hintertür Ersatz für die \"leider\" nicht greifende konkludente Preisneuvereinbarung schaffen.)
--- Zitat ---Siehe speziell bei MKG
--- Ende Zitat ---
Das OLG Koblenz hat hinsichtlich des Obiter Dictum des BGH und der Nachteile des Entfalls der Preisanpassungsklausel für den Versorger unter Heranziehung früherer BGH-Rechtssprechung auf das Kriterium der \"Zumutbarkeit\" abgestellt. Auch nicht kostendeckende Preise seien danach für den Versorger nicht notwendigerweise unzumutbar.
Am AG Gelnhausen scheint man (erstaunlicherweise auch die Vertreterin der Kundenseite, Frau RAin Holling), jedoch der Auffassung zu sein, dass dem Versorger ausschließlich ein kostendeckender Preis zumutbar sei und ein nicht kostendeckender jedenfalls nicht. Denn wie sonst erklärt sich der allseitige Ruf nach einem Sachverständigengutachten zur Findung eines kostendeckenden Preises?
Wären hier nicht vor Anordnung eines Gutachtens für jeden Einzelfall die Umstände zu prüfen, die ggf. auch einen nicht kostendeckenden Preis zumutbar machen könnten?
--- Zitat ---Voraussetzung für die Einholung eines Sachverständigengutachtens wäre zudem , dass zunächst die Anknüpfungstatsachen nachvollziehbar vorgetragen werden, weil ein SV- Gutachten sonst auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis hinausliefe.
--- Ende Zitat ---
Was für Anknüpfungstatsachen könnten das beispielsweise sein?
--- Zitat ---Wer dieses Risiko scheut, kann sich durch sein weiteres Prozessverhalten immer noch so einrichten, dass ihn dieses Risiko nicht trifft.
--- Ende Zitat ---
An welche \"Verhaltenseinrichtungen\" denken Sie da?
Und wird der auf Rückerstattung klagende Kunde, der seiner Forderung die vertraglichen Anfangspreise zugrunde legt, bei gutachterlicher Feststellung, dass der kostendeckende Preis höher liegt als der anfängliche Vertragspreis, nicht jedenfalls als Teilunterliegender mit einer entsprechenden Kostenquote belastet?
Da bei länger zurückliegenden Vertragsabschlüssen (z.B. aus den 90-er Jahren) wohl davon auszugehen ist, dass die jeweiligen Anfangspreise heute in keinem Fall kostendeckend sein werden, würde im Ergebnis jeder Kunde, der es \"wagt\", seine Rückforderungen auf Basis der vertraglichen Anfangspreise einzuklagen, niemals in Gänze obsiegen können, sondern zwangsläufig immer teilunterliegen und damit auch die entsprechende Kostenquote auch des SV-Gutachtens zu tragen haben. Angesichts der Kostenhöhe eines solchen Gutachten würde diesenfalls schon eine geringe Kostenquote zu Lasten des Gaskunden genügen, um dessen Rückerstattungsforderung komplett aufzuzehren oder sogar zusätzliche Kosten verursachen.
bolli:
Na Gas-Rebell, jetzt seien Sie mal nicht so streng mit den Versorgern. Schließlich beliefern die uns ja zu SONDERkonditionen. Da können Sie Ihnen doch nicht zumuten, auch noch drauf zu zahlen, wenn sie sich verspekulieren und uns ansonsten blöden Verbrauchern auffällt, dass wir jahrelang über den Tisch gezogen wurden und uns NUN auf einmal wehren. ;)
Im Ernst, der VIII. Senat hat aus meiner Sicht schon manchmal eine sehr eingeschränkte Sicht zugunsten der Versorger. Zwar wird immer mal ein Urteil zugunsten der Verbraucher eingestreut, welches dann aber Flugs mittels Obiter Diktum schnell wieder eingeschränkt wird.
Im vorliegenden Fall würde dem Unternehmen eine unwirksame Preisanpassung in Langläuferverträgen ja gar nichts mehr ausmachen. Wehrt der Kunde sich sofort, kann ich ihn sofort rausschmeißen. Wehrt er sich später für länger zurückliegende Zeiträume, bekomme ich zumindest meine Gestehungskosten von diesem Kunden wieder. Alle anderen bekommen ja eh nichts und haben überhöhte Preise bezahlt. :D
Wo soll bitte schön die \"Strafe\" für den Versorger liegen, dass er sich in seinem eigenen Vertragswerk verheddert hat (und von den verbrauchern teilweise überhöhte Preise verlangt) ?
Wenn er die Rechtsmaterie nicht beherrscht oder keine negativen Urteile riskieren will, soll er doch die gesetzlichen Regelungen nehmen und die Kunden in der Grundversorgung beliefern. Wenn er da sauber kalkuliert (der Billigkeit entsprechend) kann ihm doch nichts passieren. Aber da das auch niemand will :evil:, macht weiterhin eigene Verträge. Aber mit so Argumenten im Rücken ist das auch nicht schwer.
RR-E-ft:
@Gas-Rebell
Wegen der dreijährigen Regelverjährung geht es jetzt grundsätzlich nur noch um Rückzahluingsansprüche aus Überzahlungen in 2007 bzw. eine in 2007 gelegte Verbrauchsabrechnung (einschließlich darauf geleistete Vorauszahlungen).
Hatte ein Kunde 2006 Widerspruch eingelegt, hatte der Versorger bereits seit 2006 Veranlassung zur Vertragsbeendigung durch ordnungsgemäße Kündigung. Hat er dies nicht zur Veranlassung genommen, kann er sich wegen der Rückforderungsansprüche die auf dem bei Vertragsabschluss vereinbarten Preis (bzw. die Differenz hierzu) gründen, nicht darauf berufen, dass die Belieferung in 2007 ff. zu den ursprünglich vereinbarten Preisen für ihn unzumutbar war (vgl. LG Bonn, Urt. v. 03.11.10 Az. 5 S 3/10).
Und wenn Kostensteigerungen selbst bei bestehendem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht wegen §§ 1, 2 EnWG nicht weitergegeben werden konnten/durften , wenn sie eben zum Beispiel nicht zur Anpassung an die Marktverhältnisse erforderlich und angemessen waren (BGH VIII ZR 138/07 Rn. 43), dann kann erst recht, dort wo kein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht bestand, nicht die Zahlung eines Preises beansprucht werden, der auf solchen (unnötigen) Kosten beruht.
Wenn dem Versorger bereits bei bestehendem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht von der Rechtsprechung zugemutet wird, dass er bestimmte Kosten nicht umlegen darf und deshalb selbst zu tragen hat, dann gilt dies ers recht dort, wo kein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht bestand.
Einen Anspruch auf jedenfalls kostendeckende Preise kann es deshalb wegen §§ 1, 2 EnWG gar nicht geben. Denn möglicherweise entspräche auch nur ein nicht kostendeckender Preis der Billigkeit bei einseitigem Leistungsbestimmungsrecht.
Im Übrigen ist es nicht mein Ansinnen, hier die prozessualen Voraussetzungen eines SV- Gutachtens oder die prozessualen Möglichkeiten der Risikominimierung zu referieren, die den Anwälten bekannt sind bzw. bekannt sein müssen.
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