Professor Dr. Karl Riesenhuber kommentiert das BGH-Urteil äußerst kritisch in LMK 2016, Beck-Online. Zitat aus seinem Kommentar:
(...) Ein Preisanpassungsrecht begründet das Gericht aber, viertens, im Wege der „ergänzenden Vertragsauslegung“ (Rn. 66-88). Infolge der EuGH-Entscheidung käme § 4 I und II AVBGasV „nicht (mehr) als Rechtsgrundlage eines Preisänderungsrechts des Gasversorgers in Betracht“. Da die AVBGasV Bestandteil des Vertrags der Parteien sind, führe die „Verordnungslücke“ zugleich zu einer „unbeabsichtigten Unvollständigkeit des Vertrags in einem wesentlichen Punkt“. Diese sei nach dem „mutmaßlichen Parteiwillen“ und nach Treu und Glauben durch ein Preisanpassungsrecht wegen Bezugspreisänderungen zu schließen. Ein entsprechendes Interesse des Versorgungsunternehmens sei sowohl vom nationalen als auch vom Unionsgesetzgeber anerkannt. Das Preisanpassungsrecht entspreche der Zielsetzung des Energiewirtschaftsrechts der europäischen Union und des nationalen Energiewirtschaftsrechts.
Das Ergebnis der Entscheidung leuchtet ein und die Begründung für die ergänzende Vertragsauslegung entspricht einer sorgsamen Interessenabwägung. Die Begründung leidet indes an zwei inneren Widersprüchen. Erstens verkennt der Senat, dass es ein Akt der Auslegung oder Rechtsfortbildung ist, an dem bisher anerkannten Preisänderungsrecht des § 4 I und II AVBGasV nicht mehr festzuhalten und versäumt daher zu prüfen, ob diese richtlinienkonformen Rechtsfindung zulässig ist. Und zweitens begründet er unter dem Mantel der „ergänzenden Vertragsauslegung“, was er sich zunächst scheinbar versagt. Zudem hat der Senat nicht reflektiert, was die Richtlinienvorgaben für eine in den Vertrag inkorporierte Gesetzesvorschrift bedeuten.
Über das bisherige Preisänderungsrecht, das der Senat (in ständiger Rechtsprechung!) § 4 I und II AVBGasV im Wege der Auslegung entnommen hat, setzt er sich jetzt mit zwei lapidaren Sätzen und ohne jede Begründung hinweg: Daran könne nach der Entscheidung des EuGH „nicht mehr festgehalten werden“. Was hier methodisch passiert, bleibt völlig unklar. Möglicherweise meint der Senat, hier frei zu sein, da er es war, der das Preisänderungsrecht dem Gesetz (im Wege der Auslegung) „entnommen“ (Rn.21) hat. Indes ist die Bindung an das Gesetz nicht deswegen schwächer, weil ein Rechtssatz erst im Wege der Auslegung (oder Rechtsfortbildung) begründet ist. Wenn der Senat von dieser Auslegung nun abrücken möchte, so ist das ebenfalls als Auslegung oder Rechtsfortbildung begründungsbedürftig. Es liegt auf der Hand, dass diese „Begründung des Gegenteils“ schwer fällt, zumal der Senat später – sub specie „ergänzende Vertragsauslegung“ – auf die auch nach dem Gesetzgeberwillen fundamentale Bedeutung des Preisanpassungsrechts hinweist.
Unklar und unbegründet ist aber auch, inwieweit die Richtlinie überhaupt eine Korrektur erfordert. Der Senat weist (im Zusammenhang mit der „ergänzenden Vertragsauslegung“) selbst darauf hin, dass ein Preisanpassungsrecht von der Zielsetzung des deutschen und des europäischen Energiewirtschaftsrecht her geboten ist (Rn. 79). Und der EuGH hat nicht das Preisanpassungsrecht an sich, sondern nur den Mangel an Transparenz geprüft. Auch wenn das eine mit dem anderen verbunden ist, ist unter diesen Umständen doch nicht eindeutig klar, welche Folgerungen aus der Unvereinbarkeit des Preisanpassungsrechts („ohne Transparenzgebot“) mit den Richtlinienvorgaben zu ziehen sind.
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Die „ergänzende Vertragsauslegung“, mit der der Senat dann doch ein Preisanpassungsrecht begründet, ist seit langem umstritten (dazu zuletzt und überzeugend Neuner, FS Canaris, 2007, 918ff.). Die Entscheidung des BGH bestätigt die Kritik an dem Begründungstopos besonders nachdrücklich. Wer „ergänzt“, legt nicht aus, sondern unter. Der „mutmaßliche Parteiwille“ ist gerade in der vorliegenden Entscheidung ein allzu fadenscheiniges Mäntelchen. Das wird besonders deutlich, wenn sich der Senat zur Begründung auf Erwägungen des deutschen und des Unionsgesetzgebers beruft und nachgerade volkswirtschaftliche Erwägungen anstellt. Natürlich leuchtet es ein, dass ein System der Energiewirtschaft nur dann stimmig funktionieren kann, wenn der Versorgungszwang mit einem Preisanpassungsrecht kombiniert wird. Vertragspartner brauchen sich aber um das Wirtschaftsystem nicht zu kümmern (vgl. Auch Neuner, FS Canaris, 914 f.), ebensowenig um die Tragfähigkeit des Geschäftsplans ihres Partners. Es ficht den einzelnen Vertrag nicht an, wenn die Summe aller Verträge dazu führt, dass der Partner insolvent wird. Jeder darf (in den Grenzen der guten Sitten) „das Letzte“ für sich herausschlagen. Wenn man den Parteien im Übrigen wirklich die Verinnerlichung der (auch europäischen) Energiepolitik andichtet, dann könnte diese doch nicht „halbseitig“ erfolgen, nämlich nur im Hinblick auf das Preisanpassungsrecht und nicht auch im Hinblick auf die damit verbundene verbraucherschützende Transparenz, die Teil des Gesamtpakets ist.
Ist die Ergänzung aber nicht auf den Parteiwillen zurückzuführen, so kann es sich dabei nur um ein Geschöpf des Gerichts handeln – eben um richterliche Rechtsfortbildung. Sofern es dafür keine spezifische Grundlage gibt, kann sie nur auf § 242 BGB gestützt werden (auf den sich der BGH ja letztlich auch beruft). Damit erweist sich aber, dass der BGH der selbst gestellten Falle nicht entweichen kann: Wenn man – auch bei Erwägung der übersehenen Frage – dabei bleibt, dass das Preisanpassungsrecht nach § 4 Abs. I und II AVBGasV nach der EuGH-Entscheidung richtlinienkonform zu derogieren ist, dann kann man es nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung (hier kaschiert als „ergänzende Vertragsauslegung“) sogleich wieder begründen.
Neuner, FS Canaris, 916 ff. hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die korrekte Verortung der Vertragsergänzung als Rechtsfortbildung (oder im Einzelfall auch als „echte“ Vertragsauslegung) nicht zuletzt mit Blick auf den Rechtsschutz – im Instanzenzug und gegen Grundrechtseingriffe – von Bedeutung ist. Hier sehen wir, dass dem eine weitere, europarechtliche Dimension hinzuzufügen ist. Wenn es im Einzelfall um Vertragsauslegung geht (was hier ersichtlich nicht der Fall ist), kommen die Richtliniengebote grundsätzlich nicht zum Tragen; es gibt keine horizontale Direktwirkung. Geht es aber, wie bei uns, um eine Vertragsergänzung, so ist die Rechtsprechung gehalten, die Richtliniengebote mit ihrem Handwerkszeug zu verwirklichen.
Immerhin anzudeuten ist, daran anschließend, noch ein weiterer Gedanke. Wenn Vertragsparteien eine Rechtsvorschrift in ihren Vertrag einbeziehen, die sich nachträglich als europarechtswidrig erweist, so ist zu prüfen, was genau mit der Einbeziehung gewollt war (§§ 133, 157 BGB). Ging es den Parteien um die Regelung als Gesetz (so wohl regelmäßig bei einer dynamischen Verweisung) oder um ihren sachlichen Gehalt (so wohl regelmäßig bei einer statischen Verweisung). Nur im ersten Fall kann die Unwirksamkeit des Gesetzes auch zu einer Vertragslücke führen. Und selbst das ist nicht zwingend. Jedenfalls kann man nicht ohne weiteres annehmen, dass die Vertragsparteien mit der Norm auch das gesamte darin enthaltene genetische Programm, die verfassungs- und unionsrechtlichen Voraussetzungen, mit aufnehmen wollten. Wiederum illustriert der vorliegende Fall die Problematik, da der BGH (sogar unter Berufung auf den „mutmaßlichen Parteiwillen“!) davon ausgeht, dass die Parteien just das wollten, was europarechtlich nicht geht, nämlich ein Preisanpassungsrecht ohne Transparenzgebot.
3. Praktische Folgen
Für uns standen Methodenfragen und nicht die praktischen Folgen im Vordergrund. Im (vielleicht auch gewünschten, rechtspolitisch durchaus überzeugenden) Ergebnis bleicht es (im vorliegenden Fall) bei dem unionsrechtswidrigen Preisanpassungsrecht ohne Beachtung der richtliniendeterminierten Transparenzanforderungen. Die Begründung überzeugt indes nicht. Die Derogation des vorbestehenden Preisanpassungsrechts wäre näher zu erläutern und möglicherweise abzulehnen gewesen. Und auch die vorgebliche „ergänzende Vertragsauslegung“ erweist sich als Rechtsfortbildung und hätte daher die Richtliniengebote berücksichtigen müssen.
Professor Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J., ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels-und Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum und Richter am OLG Hamm.