Anmerkung von Prof. Dr. Kurt Markert zum BGH Urteil vom 31.7.2013, VIII ZR 162, 09 - VZ-NRW ./. RWE Vertrieb
1. Nach dem auf Vorlage des VIII. Zivilsenats des BGH ergangenen EuGH-Urteil vom 21.3.2013 (ZNER 2013, 147 = ZMR 2013, 520 m. Anm. Markert) ging es im Ausgangsverfahren hauptsächlich darum, ob vor dem Hintergrund dieses Urteils die 2009 begonnene Leitbildrechtsprechung des Senats (NJW 2009, 2662 = RdE 2009, 287 m. krit. Anm. Markert - GASAG; NJW 2009, 2667 – kgu) noch aufrechterhalten werden kann. Nach dieser Rechtsprechung sind Preisanpassungsklauseln in den AGB von Erdgassonderkundenverträgen mit Endverbrauchern mit § 307 Abs. 1 BGB vereinbar, wenn sie das vom Senat aus den Verordnungen für die Versorgung von Tarif- bzw. Grundversorgungskunden (§ 4 Abs. 1 u8nd 2 AVBGasV; § 5 Abs. 2 GasGVV) gefolgerte gesetzliche Preisbestimmungsrecht des Versorgers unverändert ohne Nachteil des Kunden übernehmen. Die Frage, ob diese Rechtsprechung angesichts des hierbei vom Senat selbst eingeräumten Fehlens jeglicher Konkretisierung dieses Rechts hinsichtlich Anlass, Voraussetzung und Umfang der danach möglichen Preisanpassungen mit den Transparenzanforderungen des europäischen Rechts (Art. 5 der Klauselrichtlinie 93/13/EWG und Art. 3 i. V. m. Anhang A der Binnenrichtlinien Gas von 2003 und 2009) vereinbar ist, hatte der Senat zunächst übergangen und erst 2011 dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (ZNER 2011, 179 m. Anm. Markert). Dieser hat in seinem Urteil vom 21.3.2013 entschieden, dass die Missbrauchskontrolle der RL 93/13 auch für solche AGB gilt, die eine für eine andere Vertragskategorie geltende Norm des nationalen Rechts übernehmen, und dass Art. 3 und 5 dieser RL i. V. m. Art. 3 Abs. 3 der Erdgas-Binnenmarktrichtlinie 2003/55/EG dahin auszulegen sind, dass in Preisanpassungsklauseln mit Endverbrauchern Anlass und Modus der danach möglichen Preisänderungen so transparent dargestellt werden, dass der Verbraucher diese anhand klarer und verständlicher Kriterien absehen kann. Vor diesem Hintergrund hat der SVIII Zivilsenat in seinem Urteil vom 31.7.2013 seine Leitbildrechtsprechung aufgegeben (Leitsatz 2 und Rdnrn. 45 ff.) und außerdem entschieden, dass zwei andere vom Versorger im fraglichen Zeitraum von 2003 bis 2005 in Gassonderkundenverträgen verwendete Preisanpassungsregelungen auch unabhängig von dieser Rechtsprechung der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. I BGB nicht standhalten (Leitsatz 1 und Rdnrn. 39-44).
2. Der Entscheidung des BGH ist, auch soweit der geltend gemachte Rückzahlungsanspruch als begründet angesehen wurde, ohne Einschränkung zuzustimmen.
a) Der BGH ist zu Recht davon ausgegangen, dass das Auslegungsergebnis des EuGH für die nationalen Gerichte nach Art. 288 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. EUV bindend ist und deshalb seine Leitbildrechtsprechung bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 307 Abs. 1 BGB mit dessen Transparenzanforderungen nicht vereinbar ist. Zutreffend hat er auch die vom Versorger erstrebte Ersetzung der danach unwirksamen Preisanpassungsklauseln mittels ergänzender Vertragsauslegung durch eine wirksame andere Klausel abgelehnt, weil dies der Sache nach auf eine sowohl nach deutschem AGB-Recht als auch nach Art. 6 RL 93/13 unzulässige geltungserhaltende Reduktion der unwirksamen Klausel hinausliefe (Rdnr. 62). Eine ergänzende Vertragsauslegung nach der vom VIII. Zivilsenat in zwei Urteilen vom 14.3.2012 (z. B. NJW 2012, 1865 = ZMR 2012, 521 m. krit. Anm. Markert) begründeten „Fristenlösung“, wonach der Kunde die Unwirksamkeit der auf eine nach § 307 Abs. Abs. 1 BGB unwirksame Preisanpassungsklausel gestützten Preiserhöhungen nicht mehr geltend machen kann, wenn er diesen nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung widersprochen hat, kam hier nicht in Betracht, weil für die Berechnung der Rückforderungsansprüche keine länger als drei Jahre seit der Klageerhebung zurückliegenden Ausgangspreise zugrunde gelegt wurden (Rdnr. 64). Auf die m. E. zu verneinende Frage, ob die vom Senat in Urteilen vom 23.1.2013 (z. B. NJW 2013, 991 = ZNER 2013, 152 m. krit. Anm. Markert) auch durch amtliche Leitsätze bekräftigte Ansicht, seine „Fristenlösung“ sei mit dem Anpassungsverbot des Art. 6 RL 93/13 vereinbar, brauchte der Senat deshalb nicht einzugehen. Wegen dieser zeitlichen Begrenzung des Rückzahlungsanspruchs schied auch dessen Verjährung von vornherein aus. Zu Recht hat der Senat schließlich auch die Gewährung eines mittels ergänzender Vertragsauslegung begründeten Vertrauensschutzes für den Versorger abgelehnt (Rdnr. 63). Denn der Verwender einer Klausel habe im Allgemeinen das Risiko zu tragen, dass die Klausel in späteren höchstrichterlichen Entscheidungen als nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam beurteilt wird. Außerdem habe es in dem fraglichen Zeitraum bis 2006 die Leitbildrechtsprechung des Senats als mögliche Vertrauensgrundlage noch gar nicht gegeben. Die m. E. zu verneinende Frage, ob nationale Gesetzgeber und Gerichte überhaupt ein europarechtlich zu schützendes Vertrauen in eine sich nachträglich als unrichtig herausstellende Auslegung europäischer Normen begründen können, konnte der Senat deshalb unerörtert lassen.
b) Zu begrüßen ist, dass der BGH den durch Abtretung von Kundenansprüchen begründeten Rückzahlungsanspruch der Verbraucherzentrale nicht an § 399 BGB und dem RBerG scheitern ließ (Rdnrn. 23f.). Denn so lange es im deutschen Schadensersatzrecht das Instrument der Sammelklage nicht gibt, trägt die Möglichkeit der Abtretung von Kundenansprüchen an Verbraucherverbände wenigstens begrenzt dazu bei, dass die den Kunden in derartigen Fällen zustehenden Rückforderungsansprüche auch praktisch durchgesetzt werden können. Fallübergreifend von Bedeutung ist auch, dass es nach Ansicht des BGH für die Kundeneinstufung als Sondervertragskunden bereits ausreicht, wenn der Versorger selbst die den betreffenden Kunden in Rechnung gestellten Preise als „Sondertarife“ bezeichnet (Rdnr. 37). Schließlich machen die im Leitsatz 1 des Urteils als nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam erklärten Preisanpassungsklauseln die strenge Beurteilungspraxis des Senats mit Ausnahme seiner jetzt aufgegebenen Leitbildrechtsprechung erneut deutlich. Bei der Klausel a) scheiterte die Wirksamkeit bereits an der fehlenden Verpflichtung des Versorgers, gefallenen Gasbezugskosten nach den gleichen Maßstäben wie gestiegenen Kosten Rechnung zu tragen (Rdnrn. 39-41), und bei der Klausel b) daran, dass die Möglichkeit der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB für den Kunden nicht hinreichend deutlich herausgestellt wurde (Rdnrn. 43f.).
3. Das Urteil hat über den entschiedenen Einzelfall hinaus weitreichende Auswirkungen. Da der EuGH im Urteil vom 21.3.2013 sein Auslegungsergebnis nicht auf die Zeit nach der Urteilsverkündung begrenzt hat und die betreffenden europarechtlichen Vorschriften folglich vom Beginn ihrer Geltung an entsprechend auszulegen sind, wirkt die als Konsequenz daraus vom BGH gezogene Aufgabe seiner Leitbildrechtsprechung nicht erst für die Zukunft, sondern rückwirkend. Damit sind alle nach dieser Rechtsprechung gestalteten Preisanpassungsregelungen in den AGB von Strom- und Gaslieferverträgen mit Normsonderkunden nach § 307 I BGB von Anfang an unwirksam. Offenbar trifft dies auch auf eine sehr große Zahl noch laufender Verträge zu, denn seit Beginn der Leitbildrechtsprechung im Juli 2009 sind dem Vernehmen nach verbreitet bisherige Preisanpassungsregelungen entsprechend umgestellt worden. Gegen die sich aus der Unwirksamkeit dieser Regelungen für die Kunden ergebende Möglichkeit, bereits bezahlte Erhöhungsbeträge nach § 812 BGB zurückzufordern, stehen den Versorgern nur geringe Abwehrmöglichkeiten zur Verfügung. Sie beschränken sich praktisch auf die Einrede der Verjährung gegen nicht rechtzeitig geltend gemachte Rückforderungsansprüche (dazu näher unter d)).
a) Dass die bloße Bezahlung der auf eine unwirksame Preisanpassungsklausel gestützten Erhöhungsbeträge weder als stillschweigende Zustimmung des Kunden zur Preiserhöhung noch als Verwirkung seines Rückforderungsanspruchs gewertet werden kann, hatte der Senat bereits vorher wiederholt entschieden (Rdnrn. 65f.). Den ebenfalls vom Senat bereits früher abgelehnten Einwand der Entreicherung durch die Energiebeschaffungsaufwendungen des Versorgers (z. B. NJW 2013, 991, Leitsatz b) und Rdnrn. 41 ff.) hatte dieser hier offenbar gar nicht erst vorgebracht.
b) Die nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksamen Preisanpassungsklauseln lassen sich auch nicht mittels ergänzender Vertragsauslegung durch eine wirksame andere Klausel mit verkürzter Laufzeit ersetzen, da dies auf eine unzulässige geltungserhaltende Reduktion der unwirksamen Klauseln hinauslaufen würde (Rdnr. 62). Das europarechtliche Anpassungsverbot des Art. 6 Abs. 1 RL 93/13 steht aber auch der ergänzenden Vertragsauslegung nach Maßgabe der „Fristenlösung“ des Senats entgegen. Denn wie der EuGH bereits mehrfach entschieden hat, ist es den nationalen Gerichten verwehrt, den Inhalt einer nach der RL 93/13 missbräuchlichen Klausel abzuändern, statt „schlicht deren Anwendung gegenüber dem Verbraucher auszuschließen“ (z. B. Urteil vom 14.6.2012, C–618/10, NJW 2012, 2257, Rdnr. 71). Wie von mir in ZNER 2013, 156f. näher dargelegt, verleiht auch die „Fristenlösung“ der Sache nach einer unwirksamen Preisanpassungsklausel eine begrenzte Wirksamkeit dadurch, dass sich der Verbraucher auch bei noch nicht verjährten Rückforderungsansprüchen nicht mehr auf die Unwirksamkeit derjenigen Preiserhöhungen berufen kann, die länger als drei Jahre seit dem ersten Widerspruch des Kunden gegen die ihm zugegangene jeweilige Jahresabrechnung zurückliegen. Aus europarechtlichen Gründen scheidet schließlich auch eine auf Vertrauensschutz gestützte Anpassung für die Zeit seit dem Beginn der Leitbildrechtsprechung am 15.7.2009 bis zur Vorlage an den EuGH am 9.2.2011 aus, denn der BGH konnte als nationales Gericht mit dieser Rechtsprechung kein europarechtlich zu schützendes Vertrauen darauf begründen, dass diese europarechtskonform ist (Meyer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, nach Art. 6 EUV, Rdnr. 397).
c) Dem Anpassungsverbot des Art. 6 Abs. 1 RL 93/13 widerspräche auch eine nicht nur auf die Zukunft beschränkte Vertragsanpassung nach § 313 IBGB wegen Störung der Geschäftsgrundlage (weitergehend jedoch Säcker/Mengering BB 2013, 1859, 1862 ff.). Denn auch diese Anpassung würde ebenso wie die „Fristenlösung“ der EuGH-Rechtsprechung widersprechen, dass eine nach der RL 93/13 missbräuchliche und deshalb unwirksame AGB-Klausel für den Verbraucher „schlicht“ unverbindlich ist, d. h. keine auch nur partielle Wirksamkeit haben darf. Nach § 313 III 2 BGB kann hier deshalb nur eine ex nunc wirkende Kündigung des Liefervertrages durch den Versorger in Betracht kommen, wenn die Voraussetzungen für eine Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 und 2 BGB erfüllt sind. Die Gesamtnichtigkeit des Vertrages nach § 306 3 BGB wegen unzumutbarer Härte für den Versorger kann bei richtlinienkonformer Auslegung im Lichte des Art. 6 Abs. 1 RL 93/13 allenfalls in extremen Ausnahmefällen angenommen werden. Die Ansicht des VIII. Zivilsenats, ohne Anwendung der „Fristenlösung“ könnte sich der Versorger wegen für ihn unzumutbarer Härte auf § 306 III BGB mit dessen Nichtigkeitsfolge berufen (NJW 2013, 991, Rdnr. 37), ist in dieser Pauschalität nicht haltbar.
d) Für die Verjährung von Rückforderungsansprüchen der Kunden wegen Unwirksamkeit der nicht in den Anwendungsbereich der der Leitbildrechtsprechung fallenden Preisanpassungsklauseln gilt nach mehreren Urteilen des VIII. Zivilsenats die dreijährige Regelverjährung nach §§ 195, 199 I BGB beginnend mit dem Ablauf des Jahres, in dem die jeweilige Jahresabrechnung dem Kunden zugegangen ist (z. B. NJW 2013, 1077, Rdnrn. 42 ff.). Begründet wird dies damit, dass für den Kunden im Hinblick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Wirksamkeit von Preisanpassungsklauseln nach § 307 Ab s. 1 BGB eine Klageerhebung innerhalb dieses Zeitraums zumutbar sei. Dies dürfte auch mit dem Anpassungsverbot des Art. 6 Abs. 1 RL 93/13 vereinbar sein (so wohl auch BGH, 4.12.2012, VIII ZR 4/12, Rdnr. 6, nach juris). Ob aber die Zumutbarkeit einer Klageerhebung des Kunden auch für die im Anwendungszeitraum der Leitbildrechtsprechung ab dem 15.7.2009 vom BGH als wirksam beurteilten Preisanpassungsklauseln bejaht werden kann, ist jedenfalls für die Zeit bis zum EuGH-Urteil vom 21.3.2013 mehr als zweifelhaft. Erst von da ab lässt sich deshalb die Klageerhebung des Kunden als zumutbar ansehen. Die dreijährige Verjährungsfrist kann daher in diesen Fällen nach § 199 I 2 BGB erst ab 2014 zu laufen beginnen.
e) Nach Aufgabe der Leitbildrechtsprechung des VIII. Zivilsenats ist nunmehr auch rückwirkend klargestellt, dass auch die nach dieser Rechtsprechung gestalteten Preisanpassungsklauseln in den AGB von Strom- und Gaslieferverträgen mit Normsonderkunden vom Beginn ihrer Laufzeit an die Anforderungen erfüllen müssen, die höchstrichterlich insb. auch von diesem Senat generell an die Wirksamkeit solcher Klauseln nach § 307 Abs. 1 BGB gestellt werden (Rdnr. 59). Sie müssen deshalb in jedem Fall den Kunden Aufschluss über Anlass, Voraussetzungen und Umfang der nach dem Preisbestimmungsrecht des Versorgers möglichen Preisänderungen geben. Dazu gehört auch, dass gefallenen Gasbeschaffungskosten nach den gleichen Maßstäben wie gestiegenen Kosten Rechnung zu tragen ist (Rdnrn. 39-41) und der Kunde über die Möglichkeit der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB informiert wird (Rdnrn. 43f.). Den Strom- und Gasversorgern, soweit sie weiterhin Normsonderkunden langfristig beliefern und dabei ein formularmäßiges Preisbestimmungsrecht in ihren AGB beanspruchen, bleibt vor diesem Hintergrund keine andere Wahl, als diese Anforderungen zu erfüllen. Diese sicher nicht einfache Aufgabe ist auch lösbar, wie Beispiele aus anderen Branchen zeigen, in denen ebenfalls langfristige Lieferverträge mit formularmäßigen Preisanpassungsregelungen praktiziert werden. Eine „Flucht in die Grundversorgung“ wäre kein Ausweg. Denn erstens geht dies nur mit Zustimmung der Kunden und zweitens ist auch beim Preisbestimmungsrecht der Grundversorger die Europarechtskonformität keineswegs sicher. Die Entscheidung des EuGH über die Vorlagen des VIII. Zivilsenats dazu vom 18.5.2011, ZMR 2011, 791 m. Anm. Markert, und vom 29.6.2011, ZNER 2011, 435) steht noch aus.